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Am 12. Januar 2019 demonstrierte die „Gilet jaunes“-Bewegung auch in Flauberts Heimatstadt Rouen.

© picture alliance / abaca

Gustave Flaubert und die französische Provinz: Abgehängt und aufgebracht

Vor 200 Jahren wurde Gustave Flaubert geboren. Nicht nur in seinem Werk spielt die Provinz eine große Rolle – auch in der zeitgenössischen französischen Literatur.

Keiner schimpft schlimmer auf seine Zeitgenossen: „Ich empfinde gegen die Dummheit meiner Epoche Hassfluten, die mich ersticken. Es steigt mir Sch… in den Mund, wie bei einem eingeklemmten Bruch. Aber ich will sie behalten, sie eindicken und daraus einen Brei machen, mit dem ich das neunzehnte Jahrhundert beschmieren werde, wie man die indischen Pagoden mit Kuhfladen vergoldet“, schreibt Gustave Flaubert im Oktober 1877 an seine Freunde, die Brüder Edmond und Jules Goncourt. Der Ausbruch ist nur eine von zahlreichen, vor allem in den Briefwechseln dokumentierten Schimpftiraden des französischen Schriftstellers: manchmal auf seine Mitmenschen, oft auf die Provinz, immer auf Engstirnigkeit und Borniertheit.

Und dennoch: Abgesehen von einigen Touren innerhalb Europas und zwei großen außereuropäischen Reisen – nach Ägypten, Palästina, Libanon und Syrien in den Jahren 1849/50 sowie nach Algerien und Tunesien im Jahr 1858 – verbringt Flaubert, am 12. Dezember 1821 im französischen Rouen geboren, sein ganzes Leben dort. Mit 30 Jahren zieht er zurück ins Elternhaus, zu seiner Mutter. In Croisset, einem Vorort von Rouen, wo er bis zu seinem Tod am 8. Mai 1880 lebt, verfasst er sein literarisches Werk: vier Romane – darunter der berühmteste, „Madame Bovary“ – und einen Erzählband.

Das Motiv der Enge in der Provinz

Auch anderthalb Jahrhunderte später spielt in der französischen Literatur das Motiv der Enge, des Gefangenseins in der Provinz und des Nichtwegkommens eine wichtige Rolle. Wie schon bei Flaubert, vor allem aber bei Balzac, Stendhal, Maupassant, den Vertretern des französischen Realismus, sowie bei Zola, dem großen Naturalisten, geht es um den Niedergang der Wirtschaft in ländlichen Regionen, um Arbeitslosigkeit, schlechte Infrastruktur und mangelhafte Gesundheitsversorgung. Die Autoren und Autorinnen heute heißen Nicolas Matthieu und Michel Houellebecq, Annie Ernaux, Didier Eribon und Edouard Louis, Florence Aubenas und Marie-Hélène Lafon, um nur einige zu nennen.

Was ist spezifisch an der französischen Provinz? Gibt es nationale Besonderheiten, die bestimmte Konflikte begünstigen? Die Proteste der „gilets jaunes“, der Gelbwesten, etwa – sind sie typisch französisch? Miriam Hartlapp ist Professorin am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin, sie lehrt und forscht zu Deutschland und Frankreich im Vergleich und ihrer Rolle im EU-Integrationsprozess. „Zunächst ist eines wichtig: Anders als in Deutschland, wo wir an ländliche Regionen denken, wenn wir Provinz sagen, ist in Frankreich alles, was nicht Paris ist, Provinz. Also auch große Städte wie Marseille, Lyon, Straßburg – oder Rouen, wenn wir von Flaubert sprechen.“

Der Provinz-Paris-Gegensatz ist historisch begründet, der Staatsaufbau in Frankreich geht auf Napoleon und dessen Verwaltungsreform um 1800 zurück. Er setzte in jedem der damals 98 Départements einen Präfekten ein, der ihm verantwortlich war, in den darunter angesiedelten Arrondissements Unterpräfekte. Eine Struktur mit Konfliktpotenzial, sagt Miriam Hartlapp: „Von Anfang an gab es dadurch zwei Gegenspieler: auf der einen Seite der Präfekt, der in der Provinz den Zentralstaat repräsentierte und mit bis zu 1000 Mitarbeitern über alle täglichen Amtsgeschäfte entschied, auf der anderen Seite der Bürgermeister und die vor Ort gewählten Regionalräte. Das ist der Ursprung für viele Spannungen, bis heute.“

Bis heute ist kein Land zentralistischer als Frankreich

Trotz der seit inzwischen 40 Jahren andauernden Dezentralisierungsbestrebungen ist der Zentralisierungsgrad in Frankreich auch heute höher als in jedem anderen europäischen Land. Das bedeutet, dass nur über einen kleinen Teil der öffentlichen Ausgaben auf kommunaler Ebene entschieden wird, was vor allem die Mittel für die Sozial- und Gesundheitsversorgung, für Schulen, Schwimmbäder oder den Verkehr betrifft. Zum Vergleich: Während in Skandinavien die Hälfte der öffentlichen Gelder von den Gemeinden verwaltet wird, sind es in Frankreich nur 21 Prozent – der Durchschnitt in der Europäischen Union liegt bei 31 Prozent. „Dabei gibt es in Frankreich fast 40 000 Gemeinden, und die Hälfte hat weniger als 500 Einwohnerinnen und Einwohner. Gute Infrastruktur ist dort besonders wichtig: in der Bildung, für die Gesundheit, bei der Verkehrsanbindung“, erläutert Miriam Hartlapp.

Wird dort gespart, regt sich Widerstand. Wie im November 2018. Damals entzündete sich der Protest an der in Paris verfügten Erhöhung der Spritpreise. Er formierte sich dort, wo der Preisanstieg die Menschen am empfindlichsten traf: in der Provinz, wo man auf das Auto angewiesen ist. Mit sicherem Sinn für Symbole suchten sich die Demonstrantinnen und Demonstranten, deren gelbe Warnwesten der Bewegung rasch den Namen gaben, ein typisches Merkmal der französischen Provinz: den Kreisverkehr. Immer samstags blockierten sie die „Ronds-points“ vor den großen Einkaufszentren außerhalb der Städte. „In Frankreich wurde schon immer viel auf der Straße demonstriert“, sagt die Politikwissenschaftlerin. „Aber dass der Protest diesmal von der Provinz ausging und an so vielen verschiedenen Orten gleichzeitig mobilisiert werden konnte, das war neu.“

Es geht also ums Geld. Aber nicht nur, auch um Mitsprachemöglichkeiten von Bürgerinnen und Bürgern. Seit Anfang der 1980er Jahre nimmt sich jede französische Regierung vor, das Land zu dezentralisieren, seit 2003 ist das Ziel in der Verfassung verankert, 2014 wurde die lokale und territoriale Verwaltung nochmals modernisiert. Verhindern konnte das die Gelbwesten-Proteste nicht. Mittelbar durch sie wurde aber ein Prozess zu stärkerer Bürgerbeteiligung angestoßen: die große nationale Debatte, die Präsident Emmanuel Macron dem Land Anfang 2019 als Reaktion auf die überregionale Unzufriedenheit verordnet hat. An den rund 10 000 lokalen Bürgerforen haben insgesamt mehr als eine halbe Million Menschen teilgenommen, über sogenannte Beschwerdebücher, die in den Rathäusern auf dem Land auslagen, gaben die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister den Unmut der Bevölkerung nach Paris weiter. Die Erwartungen sind geweckt, noch hängt die Umsetzung der Gesetzesreform zur weiteren Dezentralisierung allerdings im Parlament fest.

Als Gustave Flaubert sich im Oktober 1851 in einem Brief an seinen Freund Maxime Du Camp wieder einmal fragt, warum er steckengeblieben sei "dans ce marais de la province", in diesem Sumpf der Provinz, schreibt er an seinem Hauptwerk: „Madame Bovary“. „Mœurs de province“, Sitten der Provinz, nennt er es im Untertitel und macht so neben Emma Bovary die Provinz zur zweiten Hauptfigur.

So präzise wie Geometrie

Fünf zähe Jahre sollte ihn das Werk beschäftigen, bis es vom 1. Dezember 1856 an als Fortsetzungsroman in der „Revue de Paris“ erscheint, danach als gedrucktes Buch. Für die Beschreibung des tragischen Schicksals einer Frau im ländlichen Frankreich Mitte des 19. Jahrhunderts, die nach der glücklosen Heirat mit einem Landarzt und enttäuschenden Affären Selbstmord begeht, verfeinert Flaubert seinen Stil: Die Sprache müsse „so präzise wie die Geometrie“ sein, schreibt er im August 1853 an die Schriftstellerin Louise Colet, seine On-Off-Geliebte in Paris. Jeder Satz so ausgearbeitet wie ein Vers, der Erzähler: unparteilich, unpersönlich und nicht greifbar, der Autor: immer auf der Suche nach dem „mot juste“, dem passenden Wort. „Flaubert zeigt durch die, immer wieder ironisch gebrochene, Objektivität seines Stils die Typenhaftigkeit seiner Romanfiguren“, erläutert Ulrike Schneider, Romanistikprofessorin an der Freien Universität. Denn Emma Bovary, die gleichermaßen an ihren romantisch geprägten Erwartungen wie an der Borniertheit des Milieus scheitert, ist eine von vielen. „Meine arme Bovary leidet und weint vermutlich jetzt gerade in zwanzig Dörfern Frankreichs gleichzeitig“, heißt es in einem Brief an Louise Colet.

Auf den rahmengebenden Plot war Flaubert durch eine Zeitungsmeldung aufmerksam geworden, nach der sich in dem Dorf Ry in der Normandie eine junge Arztgattin – unglücklich verheiratet, verstrickt in Affären und Schulden – mit Arsen vergiftet hatte. „Ein ,fait divers‘ literarisch aufzugreifen, war unter den Realisten gängige Praxis“, sagt Ulrike Schneider. Das hänge mit dem Aufstieg des Pressewesens im 19. Jahrhundert zusammen, aber auch mit der Bedeutung des Begriffs: „Als ,fait divers‘ wird ein außergewöhnliches Ereignis bezeichnet, das gewöhnlichen Menschen widerfährt. Der Begriff bezeichnet aber auch die Zeitungsmeldung selbst sowie die Rubrik, in der solche Meldungen oft gesammelt erscheinen. Das zeigt, dass es sich um ein immer schon mediatisiertes Ereignis handelt“, erläutert die Literaturwissenschaftlerin, die zu dem Aspekt in der französischen Literatur forscht und lehrt.

Postämter auf dem Land sind immer auch Treffpunkte

Auch zeitgenössische Schriftstellerinnen und Schriftsteller bedienen sich dieser Technik, Florence Aubenas etwa. Ihre Erzählung „L’inconnu de la Poste“ (2021) beruht auf dem „fait divers“ eines ungeklärten Kriminalfalls: Im Dezember 2008 wurde in einem Bergdorf in der Region Auvergne-Rhône-Alpes die junge Postbeamtin Catherine Burgod mit 28 Messerstichen getötet. Aubenas, Journalistin bei Le Monde, rollt in ihrem literarischen Bericht den Mord und die siebenjährige gerichtliche Untersuchung auf. Sie richtet den Scheinwerfer auf die Provinz: Mit dem Tod der jungen Frau schließt die einzige, zuletzt allein von ihr betriebene Postfiliale. „Damit stirbt ein zentraler Ort, denn Postämter auf dem Land sind immer auch Treffpunkt und Informationsbörse – ein bisschen wie die ,Spätis‘ bei uns“, erläutert Ulrike Schneider. Zuvor waren in dem Dorf schon andere notwendige Dienste eingestellt worden: „Das Krankenhaus, die Geburtsklinik, die Sozial- und Landwirtschaftsversicherungen oder die Hypothekenabteilung, alles wurde zusammengestrichen, verlagert, prekarisiert, geschlossen. Vor dem Bahnhof fahren die Züge vorbei, halten aber nicht mehr“, heißt es in „L’inconnu de la Poste“.

„Das Ende der Postmoderne geht mit einer Wendung zu einem facettenreichen ,neuen Realismus‘ einher“, fasst Ulrike Schneider die Strömung in der aktuellen französischen Literatur zusammen „Es geht um einen neuen emphatischen Literaturbegriff mit einem sozialkritischen Moment.“ Florence Aubenas zählt zu den Vertreterinnen und Vertretern einer dezidiert dokumentarisch ausgerichteten Tendenz der Gegenwartsliteratur. Mit ihrer schonungslosen Sprache und einem sezierenden Blick auf die speziellen Um- und Missstände in der Provinz stehen diese 200 Jahre nach Flauberts Geburt gewissermaßen auch in dessen Nachfolge. Doch während Flaubert schon zu seiner Zeit als Vertreter einer „littérature pure“ galt und sich ausdrücklich gegen eine offene Parteinahme des Erzählers ausgesprochen hatte, ergreifen die Autorinnen und Autoren der Gegenwart meist deutlich Partei. Und schließen damit im Sinne einer „littérature du vrai“ eher an den programmatischen Realismus des 19. Jahrhunderts an.

Christine Boldt

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