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Bunte Bonbonwelt. Der Mensch hat heute Zugang zu jeder Menge Süßigkeiten. Weil das früher nicht so war, reagiert sein Gehirn so entzückt auf das zuckrige Angebot.

© SPL

Ernährung: Alles aus Zucker

Viele Menschen brechen zwischen Aschermittwoch und Ostern mit ihrer Gewohnheit und essen keine Süßigkeiten. Das Verzichten fällt ihnen häufig schwer. Eine Droge ist Zucker deswegen aber noch nicht, sagen Forscher.

Eine Frau schwelgt. Es ist Spätsommer, sie sitzt ganz allein auf der Bank vor einer Berghütte und steckt sich Himbeere um Himbeere in den Mund. „Es war die reinste Glückseligkeit: Ich badete in Süßigkeit.“ Eine Ausnahmesituation: Denn für die Frau, die Icherzählerin von Marlene Haushofers Roman „Die Wand“, gibt es keine Supermärkte mit Regalen voller Schokolade, Kekse und Gummibärchen mehr, keine Kühlschränke und keine Küchenregale, deren Vorräte sie in Versuchung führen könnten. Von dieser Welt ist sie seit einiger Zeit abgeschnitten, auch der Zuckervorrat in der Küche ihres einsamen Hauses ist längst aufgebraucht. Sie verschmerzt das, begnügt sich mit den saisonalen Früchten des Waldes und notiert: „Man kann sehr gut ohne Zucker leben, und der Körper verliert mit der Zeit das süchtige Verlangen nach ihm.“

Sehr gut ohne Zucker leben: In unserer realen Welt, in der all diese Verlockungen den Alltag der Menschen prägen, testen das ab nächster Woche wieder viele Menschen im Selbstversuch. Umfragen zufolge hat sich fast die Hälfte der Bürger schon einmal vorgenommen, in der Zeit zwischen Fasching und Ostern auf eine lieb gewordene Gewohnheit zu verzichten. Freiwillig. Den Anlass bieten die 40 Tage zwischen Aschermittwoch und Ostersonntag, die in der katholischen Kirche die Fastenzeit bilden, wobei die Sonntage bewusst ausgenommen sind. In vielen Familien verzichten Kinder und Eltern in dieser Zeit gemeinsam auf Süßigkeiten, oft die Erwachsenen zusätzlich auf Alkohol.

Dabei ist uns die Vorliebe für Süßes in die Wiege gelegt: Die Geschmackspapillen des Säuglings machen die ersten Erfahrungen mit Milchzucker, wenn er gestillt wird. Doch das Süße kennt er zu diesem Zeitpunkt schon von früher, vom Fruchtwasser, das er im Bauch der Mutter geschluckt hat. Weil man so gut wie immer sicher sein kann, dass Süßes nicht giftig ist, nennt es der Biologe und Ernährungspsychologe Paul Rizon von der Universität in Pennsylvania den „Sicherheitsgeschmack der Evolution“.

Zucker ist nicht nur sicher, er ist für den Menschen lebensnotwendig. Sinkt der Blutzuckerspiegel zu weit ab, kann das Gehirn nicht mehr arbeiten und der Mensch fällt in ein Koma. Als Energielieferant war Zucker wohl schon immer begehrt. Für unsere Vorfahren steckte er meist in Früchten. Mit der Erfindung der Landwirtschaft kamen dann Lebensmittel wie Getreide oder Kartoffeln hinzu. Die schmecken zwar nicht süß, bestehen aber vor allem aus Stärke, langen Ketten von Zuckermolekül an Zuckermolekül (siehe Infokasten), die im Körper wieder freigesetzt werden.

Hinzu kommt, dass süßer Geschmack zugleich ein Signal dafür ist, dass in etwas Essbarem auf kleinem Raum viel Energie verpackt ist. Ein wichtiger Faktor, als es noch nicht an jeder Ecke einen Supermarkt gab. Das steigert sich noch, wenn sich in einem Lebensmittel an die Süße die angenehme Textur des Fettigen schmiegen kann. Schokolade habe eine ziemlich geniale Rezeptur, meint Rizon.

Wie kommt es dann aber, dass 14 Prozent der Amerikanerinnen sich Befragungen zufolge unwohl fühlen, wenn sie sich eine Tafel Schokolade kaufen? Warum fällt einem Viertel der Befragten zu Schokolade neben „lecker“ sofort ein Attribut wie „ungesund“ ein? Warum ist Schokolade „vor allem in den Augen von Frauen die Ernährungssünde schlechthin“, wie Christoph Klotter beobachtet, Ernährungspsychologe an der Hochschule Fulda.

„Dass Menschen Zucker in Reinform oder hochkonzentrierter Form zu sich nehmen, ist ein entwicklungsgeschichtlich sehr neues Phänomen“, sagt die Ernährungswissenschaftlerin Susanne Klaus vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung (Dife) in Potsdam-Rehbrücke. Noch vor 200 Jahren war Zucker in den Haushalten eine Kostbarkeit. „Er wurde im Zuckerkästchen aufbewahrt, zu dem nur die Hausfrau den Schlüssel hatte“, sagt Klaus. Erst als die aus Zuckerrohr oder Zuckerrüben industriell gewonnene Raffinade preisgünstiger wurde, kamen auch die gesundheitlichen Bedenken – von Karies bis Übergewicht.

Glukose geht schnell ins Blut und lässt den Blutzucker in die Höhe schnellen. Was dann passiert ist Stoffwechselroutine: Die Bauchspeicheldrüse schüttet Insulin aus, das Signal für den Körper die Zuckermoleküle in die Zellen aufzunehmen. Der Blutzuckerspiegel sinkt und der nächste Hunger kann kommen. Weil Glukose so schnell ins Blut geht, lässt es den Blutzuckerspiegel aber besonders schnell an- und dann wieder abfallen. Für die meisten Menschen ist das nicht schlimm.

Forscher vermuten aber, dass solche Blutzuckerspitzen für alle, die auf der Kippe zum Diabetes stehen, ungünstig sind. Sie lassen sich vermeiden, indem man als Zuckerlieferanten Kohlenhydrate wählt, die der Körper langsamer „aufschließt“, in den letzten Jahren bekannt geworden als Nahrungsmittel mit niedrigem glykämischem Index (Glyxx), etwa Vollkornbrot oder Reis statt Keksen aus weißem Mehl und Gummibärchen.

„Grundsätzlich darf man fast alles essen, aber halt in Maßen, und es dürfen keine speziellen gesundheitlichen Probleme dagegen sprechen“, sagt Joachim Spranger, Direktor der Medizinischen Klinik für Endokrinologie, Diabetes und Ernährungsmedizin der Charité Berlin. Er denkt vor allem an seine Patienten, die mit einem Diabetes vom Typ 2 zu kämpfen haben. Ihre Körperzellen werden immer unempfindlicher gegen Insulin. Obwohl der Körper das Hormon auf Hochtouren produziert, sinkt der Blutzuckerspiegel nicht so, wie er das sollte. Schließlich versagen die Betazellen der Bauchspeicheldrüse, die Insulin herstellen.

Starkes Übergewicht erhöht das Risiko für die Erkrankung, abzunehmen kann umgekehrt den Stoffwechsel normalisieren, sagt Spranger. Und auf das Gewicht hat schnell verfügbarer, energiereicher Zucker durchaus einen Einfluss, zumal er mit dem Geschmacksträger Fett in Produkten wie Schokolade, Kuchen oder Keksen besonders gut schmeckt. Gerade haben das Forscher aus Neuseeland mit einer Metaanalyse von 71 Studien gezeigt, die im „British Medical Journal“ veröffentlicht wurde: Erwachsene, die abnehmen wollen, haben mehr Erfolg, wenn sie dem Rat folgen, weniger Süßes zu essen – wozu auch Honig, Sirup und Fruchtsäfte gehörten. Besonders groß ist der Effekt allerdings nicht: Der Unterschied machte im Durchschnitt nur 0,7 Kilogramm aus.

Ohnehin wird in Deutschland seit 40 Jahren in etwa gleich viel Haushaltszucker konsumiert: 34 Kilogramm im Jahr pro Bundesbürger, laut Angaben der Zuckerindustrie, drei Viertel davon in verarbeiteten Lebensmitteln. Männer essen und trinken im Übrigen doppelt so viel davon wie Frauen. Nicht eingerechnet sind dabei aber Getränke wie Cola oder Orangenlimonade.

Zahlreiche Studien an Tier und Mensch zeigen, dass auch die Kalorien, die mit diesen Getränken aufgenommen werden, bei der allmählichen Gewichtszunahme eine große Rolle spielen. Softdrinks und unverdünnte Fruchtsäfte enthalten Zucker in einer Menge, die die schnelle Sekretion von Insulin stimuliert. „Oft sind sie mit Fruktose gesüßt, die der Körper anders verarbeitet als Glukose und die in der Leber direkt in Fett umgewandelt wird“, erklärt Susanne Klaus. Als „normales“, sättigendes Lebensmittel werden sie vom Organismus trotzdem nicht registriert, weil die dafür nötigen körpereigenen Signale in Magen und Darm fehlen. Auf Softdrinks zu verzichten ist also nicht nur zwischen Aschermittwoch und Ostersonntag eine gute Idee.

„Auch wer Übergewicht abbauen und seinen Diabetes günstig beeinflussen will, sollte sich nicht auf ein Sieben-Wochen-Programm beschränken, sondern seine Ernährung dauerhaft umstellen“, sagt Spranger. Trotzdem kann die Entscheidung für eine gemäßigte Fastenzeit seiner Ansicht nach eine gute Sache sein: „Solche selbst auferlegten Beschränkungen können dazu führen, dass man wieder bewusster einkauft und isst, und dass man hinterher eine persönliche Bilanz zieht.“ Susanne Klaus sieht speziell den freiwilligen Verzicht auf Schokolade und andere Süßigkeiten auch als Möglichkeit, die Sinne zu regenerieren, Geschmack später wieder intensiver wahrzunehmen und den Süßgeschmack ein wenig „herunterzudimmen“: „Der Vollmilchschokoladenhase kommt einem dann an Ostern wahrscheinlich zu süß vor.“

Zeitweilig auf Süßigkeiten zu verzichten, muss nicht heißen, sie ganz und gar zu verteufeln, etwa als „Suchtmittel“: Harte Suchtkriterien wie körperliche Abhängigkeit, Verlust der Selbstkontrolle und Zwang, die Dosis immer weiter zu steigern, treffen auch auf noch so verlockende Pralinés, Schokoriegel, Smarties oder Lakritzschnecken nicht zu. „Zucker ist keine Droge“, sagt Spranger. „Es ist ein normaler Bestandteil des Organismus, ohne den insbesondere unser Gehirn nicht arbeiten könnte.“ Nicht umsonst produziere die menschliche Leber selbst Glukose.

Aber wie ist die Anziehungskraft süßer Speisen dann psychologisch zu erklären? Sie seien „so etwas wie das Versprechen des irdischen Paradieses“, sagt Ernährungspsychologe Christoph Klotter. In der nüchtern-weltlichen Fachsprache seiner Wissenschaft sind die Produkte, die die Süßkraft des verbotenen Apfels um ein Vielfaches übersteigen, „als attraktive Verstärker und Stressbewältiger Teil des Belohnungssystems“. Als Belohnung eignen sich allerdings auch eine Tüte Chips, eine Portion Pommes, ein kühles Bier oder ein süffiger Rotwein. Trotzdem gelte der Verzehr größerer Mengen Süßigkeiten allgemein als die prototypische „Essenssünde“, besonders in den Augen von Frauen, berichtet Klotter. Auch er findet es sinnvoll, mit dem eigenen Essverhalten ein wenig zu experimentieren und sich ab und an den Verzicht auf ein persönliches kulinarisches Highlight selbst zu verordnen, wenn man merkt, dass es zur Gewohnheit wurde. Er findet aber die kategorische Bewertung von Lebensmitteln als „ungesund“ oder „gesund“, „gut“ oder „böse“ bedenklich: „Wenn das Süße oder das Fette völlig verdammt werden, dann gewinnen sie an Attraktivität.“

Zum Beweis dafür, dass Strenge gegenüber sich selbst und „kognitive Rigidität“ kontraproduktiv sein können, führt er ein Experiment seiner amerikanischen Kollegen Lucy Stirling und Martin Yeomans an, dessen Ergebnisse im Jahr 2003 im „International Journal for Eating Disorders“ veröffentlicht wurden: Jeweils 30 Frauen, die ihr Essverhalten über einen längeren Zeitraum kontrollierten und sich bestimmte Lebensmittel verboten, und 30 Frauen, die das nicht taten, bekamen die Auflage, einen ganzen Tag lang keine Schokolade zu essen, obwohl die Tafeln und Riegel ständig in greifbarer Nähe waren. „Nur die Frauen, die sich selbst schon vorher strenge Regeln auferlegt hatten, konnten den Süßigkeiten nicht widerstehen und nahmen ein paar Stücke.“

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