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Historisches Gemälde, das Besucher in einem Kunstmuseum zeigt.

© Abb.: Musée du Louvre

Appell an europäische Museen: Erzählt uns alles, was ihr über die Kunstwerke wisst!

Herkunfts-Geschichten von Objekten zu offenbaren, multipliziert die Vielschichtigkeit von Museen in ganz Europa – und macht Spaß. Zwei Beispiele.

Potsdam im Herbst 1806: Nach der Schlacht von Jena und Auerstedt zieht Napoleon mit seiner Armee durch den herbstlichen Schlamm nach Berlin. Und mit ihm zieht Dominique-Vivant Denon. Er ist Generaldirektor des Musée Napoleon in Paris, des Louvre also. Er ist sechzig Jahre alt, befreundet mit Goethe, und er begleitet die marschierenden Soldaten in einer Kutsche durch das unwegsame Gelände, um die Sammlungen des preußischen Königs zu inspizieren – und auch gleich mitzunehmen.

Dazu finden wir einiges in den Archiven in Paris und in Potsdam, so zum Beispiel eine „Ordre de par l'Empereur“, mit der ein besonderer Schutz für Sanssouci durch den Kaiser festgelegt wird. Es ist ausdrücklich verboten, irgendetwas zu beschädigen, zu zerkratzen oder gar von dem Ameublement mitzunehmen. Der Kastellan soll dafür sorgen, dass nichts angetastet wird. Soweit das Papier.

Dann kommt Denon und „bedient sich“, und zwar in großem Umfang, vor allem an Gemälden und auch an antiken Statuen. Auf einer Grafik aus dem Frühjahr 1807, die eine Ausstellung im Saal der Diana im Musée Napoleon zeigt, sind einige Antiken aus Potsdam zu erkennen, darunter der Betende Knabe, aber auch Antiken aus dem Fridericianum in Kassel. Interessant ist die Präsenz einer Gruppe von Männern in türkisch-osmanischer Kleidung.

Schutzbehauptung: In Potsdam versteckt, in Paris für alle zu sehen

Es ist nicht anzunehmen, dass der Künstler wirklich Menschen aus dem Osmanischen Reich in der Ausstellung gesehen hat. Vielmehr gehört ihre Darstellung zur Propaganda eines Napoleon und eines Denon. Hier in Paris, so wird uns suggeriert, gehen Besuchende aus aller Welt ein und aus, hier kommen viel mehr Menschen zusammen, um die Exponate zu betrachten, als in Potsdam, das man lediglich erreicht, wenn man durch den Schlamm robbt und wo die herrlichen Werke auch nur zum Teil öffentlich zugänglich sind. Hier in Paris hingegen, so die Botschaft, können sogar Reisende aus entfernten Ländern Kunst betrachten.

Ein anderer Raum, in dem beschlagnahmte Kunst ausgestellt wurde, ist der Inszenierung von Sieg und Macht gewidmet. Auch hier werden Antiken aus Potsdam präsentiert, unter anderem die beiden Viktorien links und rechts der großen Büste von Napoleon, über dem, von Seidenfäden getragen, ein großer Siegerkranz schwebt. Darüber ist ein aus Kassel entführtes Gemälde von Rubens zu sehen, das eine Allegorie des Sieges zeigt. Gegenüber stehen Rüstungen aus Wien. Hier feiern Napoleon und sein Höfling Dominique-Vivant Denon den Sieg Napoleons mit der Kunst, die sie den Besiegten abgenommen haben.

Eine historische Urkunde mit Siegel.
Schutzbrief von Napoleon Bonaparte über die Schlösser in Potsdam und Berlin gegen Plünderung durch Soldaten (22. November 1806).

© Repro; mit Genehmigung der Autorin

Drei Jahre später, 1810, kommt die Frage auf, wie man sich einen Überblick verschaffen kann über all das, was man nicht nur in Potsdam, Kassel und Berlin, sondern ebenso unter anderem in Italien, Spanien, Polen, Österreich, Niederlande eingepackt und mitgenommen hat. Denn diese Werke der Schönheit, diese Highlights der europäischen Kunst und Kultur, diese Schöpfungen für die Ewigkeit sind zugleich auch bares Geld wert. Zwar gelten alle Werke im Musée Napoleon als unveräußerlich, dennoch möchte die Finanzverwaltung wissen, welche Werte nun im Louvre versammelt sind.

Streitfrage: den Ort des Raubes angeben – oder doch den Vorbesitzer

Pierre Daru, ein hoher Verwaltungsbeamter, beauftragt daraufhin einen Verwandten, den Schriftsteller Henri Beyle, der sich später Stendhal nennen wird, mit der Erstellung eines Inventars. Beyle wendet sich an Denon, den allmächtigen Louvre-Direktor, und bedrängt ihn mit der Aufforderung zur Katalogisierung: „Wir werden innerhalb einer einzigen Zeile jedes beliebige Gemälde, wie schön es auch ist, beschreiben können, sogar die ,Transfiguration’ gemeint ist die Verklärung von Raffael, damals eines der europaweit berühmtesten Kunstwerke. Unsere Arbeit wird zwar keine pittoreske Schönheit aufweisen, dafür aber die administrative Schönheit: Klarheit und Knappheit.“

[Lesen Sie auch Nicola Kuhns Rezension von Bénédicte Savoys Buch „Afrikas Kampf um seine Kunst“, in dem sie die Versäumnisse der Restitutionsdebatte aufdeckt (Tagesspiegel Plus)]

Dann beginnt das Tauziehen: Kunstexperten wie Denon sagen, dass es unmöglich sei, Kunstwerke, etwa die Verklärung Raffaels, in einer Zeile zu beschreiben. Um so einer Arbeit gerecht werden und in der Lage zu sein, ihre vielfältigen Aspekte und alles, was die Qualität des Werks ausmacht, zu berücksichtigen, bedürfe es mehrerer Seiten. Dieser Position entgegen stehen die Regierungsbeamten, die einen möglichst systematischen Überblick haben wollen.

Ein Porträtbild von Bénédicte Savoy (2019).
Die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy, Autorin dieses Artikels.

© Thilo Rückeis

[Bénédicte Savoy ist Professorin für Kunstgeschichte an der TU Berlin und am Collège de France in Paris. Der Text beruht auf einem unveröffentlichten Vortrag, den Savoy beim Sommerempfang 2021 der Freunde der Preußischen Schlösser und Gärten gehalten hat.]

Aus diesem Streit heraus wird eine Blanko-Tabelle entwickelt. Vorgedruckte Kolumnen geben den Platz vor, in dem die jeweiligen Angaben zusammengefasst werden sollen. Die in unserem Zusammenhang wichtigsten Spalten sind diejenigen, die mit „Origine“ (Herkunft) und mit „Prix de L’Objet“ (Preis des Objekts) überschrieben sind. Auch wegen der Bezeichnung der Spalte „Origine“ gibt es eine Diskussion: Ob es nicht besser „Provenance“ (Provenienz) heißen müsse? In unseren Ohren mag beides gleich klingen, aber die Experten von damals sehen einen großen Unterschied. Die „Provenance“ gibt an, ob das Werk in Italien, den Niederlanden, Spanien oder Polen entstanden ist, während unter „Origine“ der Vorbesitzer anzugeben ist.

Die Angabe der „Origine“ ist deshalb von Bedeutung, und das vor allem für die Finanzbeamten, weil es wertsteigernd ist, wenn das Werk einen bekannten Vorbesitzer hatte, der möglicherweise sogar für seinen Kunstverstand und Geschmack berühmt gewesen ist. Was vom Papst oder einem König in die Bestände des Louvre wandert, ist höher zu bewerten als anderes. Deshalb beginnt man mit der Angabe der Provenienz. Man will nicht nur wissen und dokumentieren, dass ein Correggio in Italien gemalt wurde, sondern dass sein Vorbesitzer der preußische König war.

Schlussfolgerung: Provenienzforschung ist Teil der DNA von Museen

Als Beispiel dient eine Seite, auf der ein Werk aus Potsdam aufgeführt ist, ohne dass Potsdam allerdings genannt würde. Unter dem Sammlungsbegriff „Écoles d’Italie“ wird ein Correggio gelistet. Correggio galt damals als der größte aller Künstler, seine Werke wurden zu dieser Zeit noch höher geschätzt als die Raffaels. Auf der Liste findet sich „Iuppiter & Leda“ (heute Leda mit dem Schwan, Gemäldegalerie der Staatlichen Museen zu Berlin), das um 1532 gemalt wurde. Und als Herkunft wird genannt: „Eroberung 1806“. Wer das Bild durch die „Eroberung“ verlor, wird nicht erwähnt, war wohl aber damals allen klar: Preußen. Der Wert wird mit 120.000 Franc angesetzt. Zum Vergleich: die Mona Lisa von Leonardo wurde zur selben Zeit auf 80.000 Franc geschätzt.

Ein handgeschriebenes Inventar von Gemälden mit der Überschrift "Écoles d'Italie").
Seite aus dem Inventar des Musée Napoléon mit Eintragung des Gemäldes Correggios "Iuppiter & Leda" (heute "Iuppiter mit dem Schwan").

© Musée du Louvre

Die Frage nach der Herkunft von Objekten gehört von Anbeginn zur Geschichte der Museen dazu. Seit Menschen in Museen arbeiten, erforschen und verzeichnen sie die Provenienz von Kunstwerken. Provenienzforschung ist Teil der DNA von Museen.

Deshalb sollte es heute, wo ganze Scharen von Kunstwissenschaftlerinnen und Kunstwissenschaftlern an der Erforschung der Provenienzen arbeiten und wir diese mit verschiedenen Medien transparent machen können, selbstverständlich sein, die Provenienz aller Museumsobjekte der Öffentlichkeit rückhaltlos zu offenbaren. Sei es den Verbleib von Kunstwerken, die während der Zeit des Nationalsozialismus geraubt wurden, seien es Kunstwerke und andere Objekte aus kolonialen Zusammenhängen – oder eben auch Verwerfungen durch frühere „militärische Akquisitionen“. Das aber geschieht noch lange nicht überall.

[Lesen Sie zum Streit um die koloniale Herkunft von Objekten in Museen auch diese Artikel über Bénédicte Savoy: Plädoyer für radikale Transparenz und Eine neue Weltordnung]

Welche Bedeutung die Provenienz für die Sammlungen und für die einzelnen Werke schon in früherer Zeit haben konnte, verdeutlicht ein Zitat von Ludwig Völkel, einem Gelehrten aus Kassel, der nach dem Besuch des Musée Napoleon schrieb: „Manches unbekannte oder nicht genug gewürdigte Kunstwerk den ihm gebührenden Ruhm, wenn auch der Ort, von dem es genommen war, fast immer verschwiegen, oder nicht genau angegeben wurde.“ Zwar wusste man im Musée Napoleon ganz genau, woher die Werke stammten, aber dem Publikum gegenüber legte man die Provenienzangabe nicht offen.

Stein des Anstoßes: Die Spitze des Kilimandscharo in Potsdam

Museen gehen also schon von Anbeginn sehr diskret mit ihrem Wissen um die Provenienzen um. Sie wollen zwar alles über die Kunstwerke erfahren, aber nicht alles erzählen. Und das Publikum beschwert sich schon seit spätestens 1815 – wie Ludwig Völkel. Es ist mithin kein neues Phänomen, die „Diskretion“ der Museen zu kritisieren, und die Museen spielen das Spiel schon seit 200 Jahren. Von den Museen die Angabe der Provenienz einzufordern, folgt also einer langen Tradition der Gelehrsamkeit.

Wie lehrreich und, ja, auch unterhaltsam oder bestürzend, es sein kann, diesen Geschichten en détail nachzugehen, zeigt ein weiteres Beispiel aus Potsdam. Der Grottensaal im Neuen Palais in Potsdam wurde 2015 nach aufwendigen Restaurierungsarbeiten wieder eröffnet und sieht jetzt ausgesprochen prächtig aus. Dort ist an einer der Wände die Spitze des Kilimandscharo ausgestellt.

Eine Ansammlung von Kristallen und Steinen aus einem historischen Grottensaal.
Gestein mit der Beschriftung "Spitze des Kilimandscharo 1890" im Grottensaal des Neuen Palais in Potsdam.

© Yann Le Gall/Projekt

Die Objektbeschriftung lautet tatsächlich „Spitze des Kilimandscharo 1890“. Und jetzt rattert es wieder im Kopf bei allen, die sich für die Provenienz von Objekten interessieren oder für die Präsenz von Afrika in europäischen Sammlungen. Wurde damals wirklich ein kleines Stück vom Berggipfel im heutigen Tansania abgetragen und nach Potsdam verbracht? Hat dieser Stein etwas mit der deutschen Kolonialzeit in Afrika zu tun?

Auf diesen Umstand wurde ich aufmerksam gemacht durch zwei engagierte junge Wissenschaftler, Yann LeGall und Oduor Obura, beide ehemalige Doktoranden an der Universität Potsdam. Bei einem Besuch des Grottensaals, der ja quasi direkt neben der Universität gelegen ist, ist ihnen diese seltsame Objektbeschriftung aufgefallen, und sie haben sich gefragt, was sich wohl für eine Geschichte dahinter verbirgt.

Oduor Obura, der in der Arbeitsgruppe „Postcolonial Potsdam“ tätig ist, meint: „Der Stein ist ein Erinnerungsort. Er erinnert an die deutsche Besatzung in Ostafrika. Es ist problematisch, dass das Publikum nicht darüber informiert ist. Aber das Schweigen in Reiseführern und Audioguides bedeutet nicht, dass wir die Diskussion über die Präsenz des Steins im Palast nicht führen sollten. Wir müssen das Thema ansprechen, indem wir uns die schwierige Geschichte von Ostafrika ins Gedächtnis rufen, zumindest wie der Stein hierher gebracht wurde. Und übrigens: Wer hat ihn eigentlich hergebracht?“

"Bei jedem Stein, bei jedem Objekt eine solche Geschichte erzählen"

Auf die letzte Frage, wer den Stein nach Potsdam geschafft hat, fanden die Forscher recht schnell die Antwort: der Geograf Hans Meyer. Er behauptete von sich, der Erste gewesen zu sein, der in der Kolonie Deutsch-Ostafrika den Kilimandscharo bestiegen habe.

Als Dokumentation für seinen Kaiser, so seine Erzählung, habe er einen Stein von der Spitze des Berges nach Potsdam mitgenommen. Wenn man weiter forscht, stellt man allerdings bald fest, dass der ausgestellte Stein nicht von der Spitze des Kilimandscharo stammt.

Ob der ursprüngliche Stein verloren ging oder gestohlen wurde oder ob das Geschenk Meyers nicht das war, was Meyer behauptete, lässt sich nicht klären. Als man in den 1980er-Jahren feststellte, dass der im Grottensaal angebrachte Stein nicht von der Bergspitze stammt, wurde er durch einen anderen Stein aus der Sammlung Meyers ersetzt. Mineralogisch gesehen, stammt der Stein, den wir heute betrachten, nicht vom höchsten Punkt des Kilimandscharo, sondern ist nur irgendein Stein, den Hans Meyer möglicherweise auf dem Weg zum Berggipfel aufgesammelt hat.

Solche Geschichten wie die über den Stein vom Kilimandscharo machen den Grottensaal um viele Male interessanter, als er ohnehin ist. Und wenn bei jedem Stein, bei jedem Objekt, eine solche Geschichte zu erzählen ist, multipliziert sich auch die Vielschichtigkeit nicht nur dieses einen Ortes, sondern überhaupt der Schlösser und Museen in Europa.

Bénédicte Savoy

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