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Naturkundemuseum

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Artenschutz-Konferenz: Die unbekannte Vielfalt des Lebens

In vielen Regionen verbergen sich Tiere und Pflanzen, die noch nicht wissenschaftlich registriert sind. Viele Tiere sterben sogar aus, ohne dass je ein Mensch sie sah.

Wer im Berliner Museum für Naturkunde vor der meterhohen „Biodiversitätswand“ steht, bekommt eine erste Ahnung davon, welche überbordende Fülle an Formen und Farben in der Natur lebt.

Für diese Vielfalt hat der US-Biosystematiker und Ökologe Edward O. Wilson vor zwei Jahrzehnten den Begriff Biodiversität geprägt, indem er „biologische Diversität“ zu einem Wort zusammenzog. Der Insektenforscher ist nach wie vor beeindruckt von der Artenvielfalt an Ameisen und anderen Wirbellosen – von Käfern, Mücken, Fliegen und Schmetterlingen bis hin zu Würmern und Weichtieren.

Seit letzter Woche beraten in Bonn Politiker und Fachdelegierte über den Schutz dieser Biodiversität. Wie sehr sie bedroht ist und wie viele Probleme es um ihren Erhalt, aber auch bei der gerechten Verteilung ihres Nutzens als Ressource gibt, ist seit langem bekannt. Dabei ist sie die Lebensversicherung des Menschen. Unsere Ernährung und Gesundheit hängen von ihr ab, denn es sind biologische Arten, die die wachsende Weltbevölkerung mit Nahrung versorgen, das Wasser rein halten und Grundstoffe für Medikamente liefern.

Dieser Tage in Bonn, aber seit langem auch anderswo in der Politik wird dabei meist ein Problem übersehen: Bis heute ist die Mehrzahl der Arten unbekannt. Weder wissen wir, wo und wie sie leben, noch, wie sie uns nutzen könnten. Wir kennen nicht einmal die Größenordnung ihrer Vielfalt.

Dass ihre Erfassung nicht leicht werden würde, hatte bereits vor 250 Jahren der schwedische Naturforscher Carl von Linné geahnt, als er sich aufmachte, erstmals alle bekannten Tier- und Pflanzenarten zu benennen und zu katalogisieren. Nachdem Linné in der 1735 erschienenen ersten Auflage seines Werkes „Systema naturae“ 549 Tierarten erwähnte, musste er die Zahl im Jahre 1758 in der zehnten Auflage auf 4326 Tierarten nach oben korrigieren. Linnés Erben haben dann der Frage nach der Anzahl der Arten kaum noch Aufmerksamkeit geschenkt und nicht einmal die bereits beschriebenen Tierarten verzeichnet oder gezählt.

Zwar hatte der britische Naturforscher Charles Darwin vor 150 Jahren erstmals schlüssig erklärt, wie es zur Entstehung der Arten durch evolutiven Wandel kam; doch das Ausmaß ihrer Vielfalt war auch ihm nicht bewusst. Erst als der amerikanische Insektenkundler Terry Erwin 1988 eine auf der Anzahl tropischer Käfer basierende Hochrechnung von 30 Millionen Tierarten veröffentlichte, horchte die Fachwelt auf. Seitdem ist die Diskussion um Artenzahl und Artenvielfalt nicht abgebrochen, immer neue Schätzungen wurden veröffentlicht. Heute gehen selbst konservative Schätzungen von 5 bis 15 Millionen Tierarten aus.

Mit den 1,8 Millionen bislang beschriebenen Tierarten dürften Biosystematiker allenfalls das erste Zehntel erfasst haben. Die „Artendetektive“ spüren heute allerorten bisher unbekannten Tieren und Pflanzen nach. Sie werden vor allem in den letzten biologischen Schatzkammern fündig, etwa den lange abgeschotteten und abgelegenen Regionen Indochinas und auf Neuguinea oder in den Weltmeeren. Noch nie wurden mehr neue Arten entdeckt als heute, und ein Ende der Inventur der Natur ist nicht abzusehen. Ihren Beitrag dazu leisten auch molekulargenetische Methoden, mit denen sich „kryptische Arten“ unterscheiden lassen, die äußerlich sehr ähnlich sind und daher systematisch bisher in eine Schublade gesteckt wurden. Vor allem bei den Insekten, aber auch bei Schnecken, Muscheln und Krebsen stoßen Wissenschaftler so vermehrt auf bislang unbekannte Arten.

Allein im wichtigsten Forschungszentrum für derartige Biodiversitätsstudien in Deutschland, am Museum für Naturkunde in Berlin, haben Zoologen im vergangenen Jahr knapp 150 neue Tierarten beschrieben, darunter afrikanische Schmetterlinge, Süßwasserschnecken aus Südostasien und nachtaktive Baumfrösche aus Neuguinea. Doch wie viele Neubeschreibungen es weltweit pro Jahr gibt, weiß niemand. Vorsichtige Schätzungen für 2007 gehen von 1100 aus, andere von 20 000 neuen Arten.

Dringend benötigt wird eine zentrale und online zugängliche Erfassung, eine Art Melderegister für zoologische Neuzugänge. Vergleichsweise überschaubar sind allein die Neuentdeckungen bei den Säugetieren. Allerdings vergehen zwischen der Entdeckung und der korrekten wissenschaftlichen Beschreibung oft einige Jahre. So meldete eine Expedition der Umweltorganisation „Conservation International“ im Juni 2007, dass sie in den Foja-Bergen von Papua-Neuguinea gleich zwei Säugerarten beobachten konnte. Doch die Riesenratte und eine kleine Beutelratte sind bislang nicht einschlägig untersucht oder formal beschrieben. Dagegen machten andere Forscher ihre Entdeckung in den Wäldern Tansanias erst publik, als sie im „Journal of Zoology“ eine mit den Elefanten verwandte neue Spitzmausart als Rhynchocyon udzungwensis, zu Deutsch: Graugesichtiges Rüsselhündchen, beschrieben.

An Ansätzen zu einem „all species register“ fehlt es nicht, doch sind die Herausforderungen komplexer als etwa bei der bloßen Entzifferung der Bausteine in der Erbsubstanz von Menschen und Tieren. Für einen ähnlich automatisierten Ansatz wie bei den Genom-Projekten hat sich die Biosystematik und die Erfassung der Artenvielfalt bislang als zu komplex erwiesen.

Der Autor ist Forschungsdirektor am Museum für Naturkunde in Berlin.

Matthias Glaubrecht

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