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© picture-alliance/Photocuisine

Blütenpflanzen: „Ein abscheuliches Geheimnis“

Lange Zeit blieben Wissenschaftlern die Anfänge der Blütenpflanzen rätselhaft. „Die rasche Entwicklung aller höherer Pflanzen ist ein abscheuliches Geheimnis“ schrieb schon Darwin in einem Brief. Heute gewährt ein Blick in ihre DNA neue Erkenntnisse.

Darwins vor 150 Jahren erschienenes Buch „On the Origin of Species“ gilt zu Recht als Meilenstein in der Geschichte der Biologie und Beginn unseres modernen Verständnisses von Evolution. Blättert man im Register, so ist man überrascht, wie wenige Verweise sich auf Blütenpflanzen beziehen. Liest man den Text genauer, wird der erste Eindruck bestätigt. Darwin argumentiert kaum mit Befunden aus dem Pflanzenreich, und zwanzig Jahre später heißt es in einem seiner Briefe: „Die rasche Entwicklung – soweit wir dies beurteilen können – aller höherer Pflanzen innerhalb der jüngeren geologischen Zeit ist ein abscheuliches Geheimnis“. Der Empfänger des Schreibens war ein berühmter, weitgereister und sehr kenntnisreicher Mann, Joseph Dalton Hooker, Darwins engster Vertrauter und Direktor des Königlichen Botanischen Gartens in Kew bei London. Was hat Darwin zu seinem Urteil bewogen? Es war das Fehlen eines ihn überzeugenden, sich über viele Jahrmillionen erstreckenden fossilen Befunds für Blütenpflanzen, wie er damals bereits für Säugetiere, Vögel und andere Tiergruppen vorlag.

Darwin konnte sich nicht vorstellen, dass die verwirrend komplexe Vielfalt der fossil nachgewiesenen Blütenpflanzen plötzlich im mittleren und späten Tertiär entstanden war. Noch wenige Monate vor seinem Tod schrieb er an Hooker: „Ich war so erstaunt über das offensichtlich plötzliche Entstehen der höheren Phanerogamen, dass ich mir manchmal ausgedacht habe, dass diese Entwicklung langsam über einen immens langen Zeitraum auf einem isolierten Kontinent oder einer großen Insel abgelaufen ist, vielleicht nahe dem Südpol“. Der Kern dieser reichlich wolkigen Argumentation liegt in Darwins Vorstellung von einer grundsätzlich graduell ablaufenden Evolution, wie sie in dem alten, in „On the Origin of Species“ zitierten Satz „Die Natur macht keinen Sprung“ zum Ausdruck kommt.

Dieses Festhalten überrascht, zumal der französische Paläontologe Marquis Gaston de Saporta in einem Brief an Darwin bereits einige Jahre davor eine alternative Interpretation geliefert hatte: „Insekten und Pflanzen waren gleichzeitig Ursache und Wirkung durch ihre Verbindung untereinander, weil Pflanzen nicht im Stande sind, sich ohne Insekten zu diversifizieren, und Insekten nicht im Stande sind, viele Pollen- und Nektarfresser hervorzubringen, so lange das Pflanzenreich arm an Einrichtungen FÜR INSEKTEN]war“. Nach Saporta waren es somit die wechselseitigen Anpassungen zwischen Blüten besuchenden Insekten und Blütenpflanzen – das, was wir heute Koevolution nennen – welche die rasche Diversifizierung der Blütenpflanzen ermöglichte: Mit dieser These wurden deren plötzliches Auftreten im fossilen Befund und damit erstmals auch unterschiedliche Geschwindigkeiten in der Evolution erklärbar.

Rätselhaft blieb, wie man sich die Anfänge der Blütenpflanzen vorzustellen habe. Die traditionelle Richtung ging von der Idee aus, dass jene mit einfach gebauten Blüten – ohne Blütenhülle, getrennt geschlechtlich und windbestäubt – am Anfang der Diversifizierung standen und sich im Laufe der Evolution Blütenpflanzen mit komplexer gebauten Blüten – mit Blütenhülle, zwittrig und tierbestäubt – herausgebildet hätten. Zwei Professoren an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin und Direktoren des Königlichen Botanischen Gartens und Museums in Schöneberg bei Berlin vertraten mit Nachdruck diese Vorstellung: August Wilhelm Eichler und dessen Nachfolger Adolf Engler. Ihre Veröffentlichungen, insbesondere Englers Werk „Die natürlichen Pflanzenfamilien“, verbreiteten weltweit dieses Konzept, in dem beispielsweise Weiden- und Pappelgewächse am Anfang des Systems standen.

Eine modernere Richtung bezweifelte diese Annahme und vermutete, dass am Anfang Blütenpflanzen mit komplex gebauten Blüten gestanden hätten, die sowohl regressive als auch progressive Entwicklungen durchlaufen könnten. Demnach hätten Bäume mit durch Käfer bestäubten, zwittrigen Blüten an der Basis gestanden, von denen sowohl windbestäubte, eingeschlechtliche als auch weitere insektenbestäubte, zwittrige Gruppen abzuleiten wären. Zusammengefasst hat diese Überlegungen William Bessey, Professor an der University of Nebraska, und in einem grundlegenden, bis heute nachwirkenden Text „The phylogenetic taxonomy of flowering plants“ in den „Annals of the Missouri Botanical Gardens“ 1915 veröffentlicht.

In Berlin wurde diese bahnbrechende Arbeit nicht wahrgenommen, beziehungsweise völlig verschwiegen. Engler, der sich in der zweiten Auflage seiner „Pflanzenfamilien“ 1926 nochmals mit dem Thema auseinandersetzte, scheint die Argumentation nicht verstanden, wahrscheinlich sogar Bessey nicht einmal gelesen zu haben, denn er schreibt: „Es ist namentlich nicht zuzugeben, dass Familien mit durchweg windblütigen Pflanzen ohne Blütenhülle (…) sich aus insektenblütigen mit einfacher oder doppelter Blütenhülle entwickelt hätten“. Doch Bessey sollte Recht behalten: In den Blütenkätzchen von Weiden und Pappeln fanden sich bald einige Merkmale, etwa Nektarausscheidung, die eine Tierbestäubung sehr wahrscheinlich machen.

Der Zweite Weltkrieg, die weitgehende Vernichtung vieler wissenschaftlicher Sammlungen in Mitteleuropa, darunter auch des Botanischen Gartens und Museums in Berlin-Dahlem, und der langsame Wiederaufbau mit stark veränderten Prioritäten ließen die Suche nach den Anfängen der Blütenpflanzen lange in den Hintergrund treten. So waren es vor allem amerikanische Botaniker, unter ihnen Arthur Cronquist vom New York Botanical Garden, zeitweilig in Kooperation mit Armen Takhtajan vom Komarov Institut der damaligen sowjetischen Akademie der Wissenschaften in Leningrad, die sich dieses Themas annahmen und in Herbarien und im Gelände neue Kandidaten aus entlegenen Gebieten der südlichen Hemisphäre aufspürten: Austrobaileya, eine Liane aus dem tropischen Queensland im Norden Australiens, Degeneria von den Fidschi Inseln mit blattförmigen Staubblättern sowie die unscheinbare, nur in Neukaledonien anzutreffende Amborella, alle drei Gattungen mit nur jeweils einer Art.

So wandelten sich die Vorstellungen, doch blieben viele Fragen offen, insbesondere fehlte eine objektive Methode, zwischen den verschiedenen Stufen der Ursprünglichkeit zu unterscheiden. Seit kurzem ermöglicht die Sequenzierung von DNA-Abschnitten, idealerweise aus Zellkern, Chloroplasten und Mitochondrien isoliert, einen neuen Einblick und damit hoffentlich präzisere Aussagen über die Anfänge der Blütenpflanzen. An ihrer Basis steht nach diesen Arbeiten die sogenannte ANITA-Gruppe: Sie umfasst neben Amborella die fast weltweit verbreitete Seerosen-Verwandtschaft, an der im Botanischen Garten und Museum Berlin-Dahlem derzeit geforscht wird. Dazu zählen nun auch die absonderlichen, unter Wasser blühenden und fruchtenden, in Australien, Neuseeland und Indien heimischen Hydatellaceen sowie die Austrobaileya-Verwandtschaft, die eine so bekannte Gattung wie den in Ostasien vorkommenden Stern-Anis einschließt.

Ob damit das letzte Wort gesprochen ist, darf bezweifelt werden: die Suche nach den Anfängen der Blütenpflanzen, sowie die Beschäftigung mit Biodiversität überhaupt, lässt sich mit der Arbeit von Sisyphus vergleichen, denn so wie immer wieder sein Stein in die Tiefe rollt, so müssen immer wieder neue Befunde in das vorhandene Gedankengebäude der Botanik eingebracht werden: Und niemand weiß, wann der nächste Umbau fällig ist.

- Der Autor ist Direktor an der Zentraleinrichtung Botanischer Garten und Botanisches Museum Berlin-Dahlem der Freien Universität Berlin.

H. Walter Lack

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