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Berliner Schulen kommen bei der Inklusion voran.

© dpa

Wie Lehrer Inklusion lernen: Das kleine Einmaleins für alle

Inklusion im Unterricht: Berlins neues Lehrerstudium soll alle angehende Pädagogen darauf vorbereiten. Wird das gelingen?

Das kleine Einmaleins, zum Beispiel. Wie erklärt es der Lehrer seinen Grundschülern am besten? So, dass das blinde Mädchen verstehen kann, so, dass der Junge mit Konzentrationsproblemen am Ball bleibt. Ein anderer Junge, der wegen seiner geistigen Behinderung dem Stoff nicht wird folgen können, muss so lange anders beschäftigt werden.

Willkommen im inklusiven Unterricht! Wer Kinder mit und ohne Behinderungen gemeinsam in der Klasse hat, steht in jeder Stunde vor solchen Herausforderungen. „Lehrer müssen den Stoff auf zehn Arten erklären können, Methoden variabel einsetzen und dabei noch im Blick behalten, ob die Kinder ihre Erklärungen verstehen“, sagt Dietmut Ophardt, Geschäftsführerin des Zentrums für Lehrerbildung an der Freien Universität (FU). Die blinde Mitschülerin braucht Arbeitsblätter in Braille-Schrift und Materialien zum Anfassen. Der Junge, der sich schwer konzentrieren kann, alle 15 Minuten eine Bewegungspause, vielleicht auch mehr Zeit oder Aufgaben in einer leichten Sprache. Und der geistig behinderte Junge kann Zahlen malen, solange seine Mitschüler multiplizieren. In den Schulen muss sich viel ändern, damit Inklusion möglich wird.

Sonderpädagogik wird es nicht mehr geben

Binnendifferenzierung, heterogene Lerngruppen: Diese Schlagworte gehören zwar seit Jahren zum Repertoire der Lehrerbildung. Darauf, auch Kinder mit Behinderungen zu unterrichten, werden die meisten Pädagogen bisher aber nicht vorbereitet. Das soll sich zum Wintersemester 2015/16 ändern, wenn das reformierte Lehrerbildungsgesetz an den Berliner Universitäten in Kraft tritt. Künftig müssen alle angehenden Grundschul-, Oberschul- und Berufsschullehrer sonderpädagogische Grundqualifikationen lernen. Zwölf Leistungspunkte – von insgesamt 300 – sind im gesamten Studium dafür vorgesehen. Bisher lernen die Studierenden lediglich Grundlagen der pädagogischen Diagnostik und Lernpsychologie.

Den Studiengang Sonderpädagogik wird es dann nicht mehr geben. Wer sich auf Sonderpädagogik spezialisieren will, wählt einen oder zwei Förderschwerpunkte als Studienfach, wird also etwa Grundschullehrer mit dem Schwerpunkt Körperbehindertenpädagogik.

Kann das gelingen? Reichen zwölf Leistungspunkte aus, um angehende Lehrer auch nur ansatzweise auf die Herausforderungen der inklusiven Schule vorzubereiten? Und geht nicht Fachwissen verloren, wenn die Ausbildung der Sonderpädagogen in den übrigen Studiengängen aufgeht? Darüber wurde von Anfang an gestritten.

Bedeutungsverlust sonderpädagogischer Inhalte

Besonders heftiger Gegenwind kam aus dem Institut für Rehabilitationswissenschaften an der Humboldt-Universität (HU). Bernd Ahrbeck, Professor für Verhaltensgestörtenpädagogik, warnte in großen Zeitungsartikeln vor einem „erheblichen Bedeutungsverlust“ der sonderpädagogischen Inhalte. Mit der Inklusion werde „Gemeinsamkeit um jeden Preis“ angestrebt. Andere hielten dagegen: Wer so argumentiere, wolle nur eigene Pfründe verteidigen.

Viele Fachleute begrüßen die Reform – auch aus den Reihen des Sonderpädagogik: „Berlin ist hier Vorreiter“, sagt Vera Moser, Professorin für Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Lernens und Allgemeine Rehabilitationspädagogik an der HU. Dass der Studiengang Sonderpädagogik abgeschafft wird – damit kann sie leben. Entscheidend ist, dass der Umfang für fast alle sonderpädagogischen Fachrichtungen – etwa Sehen, Hören oder körperliche und motorische Entwicklung – gleich bleibt, sagt sie. Allerdings: Die Förderschwerpunkte Lernen, Sprache sowie emotionale und soziale Entwicklung werden im neuen Studium zu einer gemeinsamen Fachrichtung zusammengelegt. „Künftig werden für 120 Leistungspunkte drei Förderschwerpunkte studiert statt bisher zwei“, sagt Moser. „Das haben wir hinnehmen müssen.“

Werden die angehenden Lehrerinnen und Lehrer am Ende ihres Studiums den Anforderungen der inklusiven Schule gewachsen sein? Die Universitäten dämpfen zu hohe Erwartungen: „Unsere Studenten werden durch die Reform nicht alle zu Mini-Sonderpädagogen“, sagt Ophardt. Die Studenten sollten aber die Grundlagen kennenlernen. Und später erste Anhaltspunkte haben, wenn sie etwa einen Schüler mit Konzentrationsproblemen in der Klasse haben: Woran könnte er leiden? Wie finde ich Aufgaben, die er bewältigen kann? Unter welchen Bedingungen darf ich ihm bei Prüfungen mehr Zeit geben? Wo finde ich Hilfs- und Unterstützungsangebote?

Didaktik-Profs zurück auf die Schulbank

Allerdings ist noch weitgehend unklar, wie die Berliner Universitäten diese Kompetenzen vermitteln werden – das geben die Verantwortlichen offen zu: „Wir stecken noch in der Planung und stehen noch ziemlich am Anfang“, sagt Stefan Kipf, Professor für Didaktik der Alten Sprachen und Direktor der Professional School of Education (PSE), des Lehrerbildungszentrums der Humboldt-Universität. Auf Kipf und seine Kollegen kommt mit dem neuen Studium einiges zu. Denn die Hälfte der inklusiven Inhalte soll künftig in den Fachdidaktiken der Schulfächer vermittelt werden. Genau so hat es der Bildungsforscher Jürgen Baumert gewollt, auf dessen Empfehlungen die Änderungen in der Berliner Lehrerbildungen zurückgehen: „Im Fach selbst findet die eigentliche Förderung der Schüler statt“, erklärt er auf Anfrage. Der Didaktiker Kipf gibt zu bedenken: „Die Fachdidaktiker sind aber bisher für die neuen Anforderungen nicht ausgebildet.“

Darum sollen die Didaktik-Professoren nun wieder die Schulbank drücken. Freiwillig, wie Kipf betont. Derzeit läuft dazu an der HU eine von Vera Moser und dem Lehrerzentrum organisierte Ringvorlesung zum Thema Inklusion; im Februar folgt ein Diskussionsforum. An der FU sollen sich die Dozenten vom Januar an einarbeiten: „Inklusion als Thema der reformierten Lehrkräftebildung“ lautet das Thema der Reihe, die die FU gemeinsam mit der Universität Potsdam veranstaltet. Wenn die Berliner Didaktiker dann bald die neuen Curricula stricken, sollen sie sich eng mit ihren Kollegen aus der Reha-Wissenschaft abstimmen – auch das ist neu.

An den Schulen wird es genauso sein: Die Reform steht und fällt mit der Teamarbeit zwischen Fachlehrern und ihren auf Sonderpädagogik spezialisierten Kollegen. Darauf werden die Universitäten ihre Studenten stärker vorbereiten müssen. Der Sonderpädagoge dürfe kein Außenstehender sein, der als Feuerwehr dazukommt, sagt Aart Pabst, Leiter der Arbeitsgruppe Inklusion der Kultusministerkonferenz. Das neue integrierte Berliner Studium sei daher mutig und zukunftsweisend. „Die Zeit des Einzelkämpfers ist mit der Inklusion vorbei.“

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