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Wissen: Der Flug des Phönix

Einhorn, Drache, Phönix – das sind mythische Wesen. Doch auch sie haben einen Ursprung in der Realität. Eine Suche nach dem Vorbild des Feuervogels.

Eine eigenartige Faszination geht von den Fabelwesen aus. Es gibt sie nicht und doch existieren sie in den Köpfen vieler Menschen quer durch Kontinente und Kulturen. Sie leben in Mythen, Legenden oder Märchen. Fabelhaft, wie sie sind, brauchen sie keine Legitimierung durch die Wirklichkeit. Ihre Anhänger sorgen dafür, dass sie nicht aussterben. Scheint ihr Verschwinden doch zu drohen, feiern sie fröhlich Urständ. Wir lieben das Fabelhafte als Ausgleich zur harten Wirklichkeit. Wie die Kinder Märchen, brauchen wir das Unwirkliche.

Gäbe es Drache, Phönix und Einhorn nicht, müssten sie erfunden werden. Aber lassen sie sich erfinden? Wenn das so einfach ginge, gäbe es längst viel mehr Fabelwesen. Warum überdauerten sie und einige wenige andere die Zeiten? Aus welcher Zeit stammen sie eigentlich? Warum nahm sich der Mythos ihrer an, nicht aber dem so liebenswerten Onkel Donald und Micky Mouse von Walt Disney? Oder Familie Feuerstein? Sind diese Schöpfungen unserer Zeit zu nah am Menschen? Drücken sie zu direkt unsere Eigenschaften und Unzulänglichkeiten aus? Phönix, Einhorn und Drache sind anders. Sie wurden gewiss nicht als Karikaturen erfunden und auch nicht als Comics. Als mythische Wesen existieren sie bereits seit Jahrtausenden.

Vom Einhorn lieferten griechische Geschichtsschreiber der Hellenenzeit erstaunlich genaue Beschreibungen. Sie wussten offenbar, welches Tier sie meinten. Ihr Wissen war längst verloren gegangen als die mittelalterliche Mystik das Einhorn vereinnahmte. Vom lebendigen Tier der Alten Griechen mutierte es zum christlichen Fabelwesen. Wie so eine Verwandlung zum Fabelwesen vor sich ging, lässt sich am besten am Phönix erläutern. Er gilt als Sinnbild der Wiederauferstehung – aus der eigenen Asche. Gab es ihn einst? Das ist die erste Kernfrage. Oder war er von Anfang an eine Idee, und die Zeit schuf den Mythos dazu. Wenn ja, warum? Das ist die zweite Kernfrage. Fragen dieser Art halten viele für unangebracht, weil sich das Mythische der Erklärung entzieht. So kann man es sehen. So sein muss es deshalb noch lange nicht. Auch Mythen haben ihre Ursprünge. Davon geht das wissenschaftliche Denken aus. Ich bin Naturwissenschaftler und auch Ornithologe. Der Phönix ist ein Vogel. So wird er dargestellt. Also gehört er auch zu meinen Bereich und nicht nur zur Mythologie.

Viel Konkretes ist über den Phönix berichtet worden. Er war schön, ganz außerordentlich schön sogar, und sehr selten. Alle Formen des Phönix-Mythos von der mediterranen Antike über Persien und Indien bis nach China stimmen darin überein. Und auch darin, dass er nur in langen Zeitabständen erschien. Er war groß und stattlich wie ein Mensch. Er kam aus weiter Ferne und flog der Sonne entgegen. Die größte Verehrung war ihm zur Zeit der Pharaonen in Heliopolis im Nildelta zuteil geworden. In dieser Stadt, die nach der Sonne benannt worden war, und die heute einer der vielen Vororte von Kairo ist, wurde er „Benu“ genannt.

Über Heliopolis erfuhren die Griechen von dem Vogel und sie benannten ihn nach den Phöniziern, jenem geheimnisvollen Seefahrervolk, das zu ihrer Zeit an der Küste des Libanon siedelte und von dort aus zahlreiche Städte rund ums Mittelmeer gründete. Die Phönizier wurden mächtiger als die Griechen. Die Römer hielten sie für ihren größten Konkurrenten um die Vorherrschaft im Mittelmeerraum. Karthago, die bedeutendste phönizische Stadt in Nordafrika, beim heutigen Tunis gelegen, bedrohte Rom nicht nur mit Flotten, sondern auch auf dem Landweg als Hannibal mit seinen Elefanten über die Alpen zog. Erst als Karthago fiel wurden die Römer die unumstrittene mediterrane ‚Weltmacht'. Die Phönizier waren auch die ersten, die Afrika umschifften. Das geschah schon mehr als eineinhalb Jahrtausende vor den Portugiesen. Sie waren etwas Besonderes, diese Roten Seefahrer, wie ihre griechische Bezeichnung Phönizier übersetzt lautet. Was hatten sie mit dem Phönix zu tun?

Zunächst vermutlich die Farbe Rot. Die Übereinstimmung weist auf einen Vogel hin, den die wissenschaftliche Zoologie „Phönixflügel“ genannt hat. Das ist der Flamingo. Flammend rot sind Teile seines Gefieders. Mit gerecktem Hals wird er so groß wie ein Mensch. Im Flug glüht das Rot mancher Partien seines Federkleides geradezu auf. Flamingos fliegen häufig der untergehenden Sonne entgegen. Ihr Rot im Abendrot gehört zu den eindrucksstärksten Naturschauspielen. Ist also mit ihnen das Urbild des Phönix schon dingfest gemacht? Tatsächlich passt noch einiges mehr. Dem Mythos zufolge verbrennt der Phönix und erhebt sich erneuert und verjüngt wieder aus seiner Asche. Aus dem Ei, das in seiner Asche zurückgeblieben ist, wird er wiedergeboren. Einen solchen Eindruck erwecken die Flamingos in der Tat, wenn ihre verlassene Brutstätte aufgesucht wird. Vor dem Brüten formen sie in flachen Salzlagunen ihre Nester als niedrige Schlammkegel. Darauf bebrüten sie ihre Eier und füttern die Jungen. Subtropisch-tropischer Hitze in der flimmernden Weite der Lagunen ausgesetzt, bleiben nicht selten unbefruchtete Eier und tote Junge zurück. Ihr Nistplatz sieht im Herbst aus wie Aschekegel aus grauem Salzschlamm. Darauf mag noch ein Ei liegen oder daneben die scheinbar verbrannten Überreste von jungen Flamingos, die gestorben sind. Sonne und Salzschlamm haben sie zersetzt. Sie sehen aus als ob sie verbrannt worden wären.

Im Frühsommer, wenn die flachen Lagunen, in denen Flamingos nisten, mit Wasser gefüllt sind, ist der Schlamm zäh und gefährlich klebrig. Man tut gut daran, nicht hinauszugehen, um nicht einzusinken. In der flimmernden Hitze über den weiten Lagunen werden die weit draußen stehenden Flamingos zu wabernden Flammen. In der Hitze des Sommers verschwinden sie, während der Salzschlamm austrocknet und fest wird. Was sich dann dem Auge offenbart, ist eindeutig: Phönix verbrannte, hinterließ Asche und das Ei, aus dem er wieder aufersteht. Die Alten Ägypter trugen es in den Tempel nach Heliopolis, um die Wiederauferstehung zu erwarten.

Doch es dauert lange, bis er wieder- kommt, sehr lange. Die alten Schriften nennen Jahrhunderte. Flamingos brüten natürlicherweise nicht alljährlich, es sei denn, die Bedingungen sind mehrere Jahre hintereinander außerordentlich günstig. Das liegt an ihren Nahrungsgründen und Nistplätzen. Im Bau des Schnabels deutet sich an, dass der Flamingo ein Nahrungsspezialist sein muss. Denn die Oberseite ist gewinkelt und wird nach unten gerichtet ins Wasser getaucht. Der bewegliche Unterschnabel pumpt, unterstützt durch die dicke, fleischige Zunge, sodann Wasser durch die reusenartigen Schnabelränder. Winzige Salinenkrebschen und andere Kleinlebewesen bleiben daran wie in einem Filter hängen. Davon leben die Flamingos. Der Pumpmechanismus arbeitet jedoch nur ergiebig, wenn es im Wasser sehr viele solcher Kleinlebewesen gibt.

Zur nahrhaften Flamingosuppe werden Lagunen, wenn die Salzkonzentration entsprechend hoch geworden ist. Dann vermehren sich die Kleinkrebse in Massen. Dieser Zustand stellte sich nur gelegentlich, oft erst in langjährigen Abständen ein, bevor die Menschen Salinen an tropischen und subtropischen Küsten anlegten. Die Flamingos mussten mit dem Brüten warten, bis die richtigen Bedingungen vorhanden waren. Das Rot ihres Gefieders drückt aus, ob sie genug Nahrung gefunden haben. Denn es stammt aus Farbstoffen vom Typ der Carotinoide, die Salinenkrebschen und Blaualgen in der Salzbrühe ausbilden.

Zur Ernährung der Jungen entwickeln die Flamingoeltern eine blutartige Kropfmilch. Im christlichen, gleichwohl aber falschen Bild des Pelikans, der seine Jungen mit dem eigenen Blut tränkt, taucht diese biologische Eigenart der Flamingos wieder auf. Pelikane füttern ihre Brut mit Fischen, nicht mit Blut. Wie nicht selten brachten die Mönche im Mittelalter manches durcheinander, das sie nicht kannten und nicht kennen konnten, weil es in ihrer viel zu weit nördlich gelegenen Welt keine Flamingos gab und Pelikane auch so gut wie unbekannt waren. Mit Versatzstücken muss man daher rechnen, wenn man Eigenschaften von Fabeltieren den realen Vorbildern zuzuordnen versucht.

Das Blut des Pelikans gehört zum Flamingo, wie auch die unregelmäßige Art zu brüten. Inzwischen wissen wir, dass Flamingos Hunderte, ja Tausende Kilometer weit fliegen, um geeignete Lagunen zum Brüten zu suchen. Deshalb erscheinen sie plötzlich und verschwinden wieder. Lange konnte es dauern, bis eine bestimmte Lagune die richtige Salzkonzentration erreicht hatte. Dann erst kamen sie wieder, die Flammenvögel, die den Namen der Phönizier erhalten hatten. Doch so gut bis hier hin auch alles zu passen scheint, an zwei ganz wesentlichen Punkten stimmen Flamingo und Phönix/Benu nicht überein. Benu kam einzeln oder als Paar, niemals in Massen. Die Flamingos leben aber stets in Schwärmen. Sie brüten in Kolonien, die Hunderte bis viele Tausende Paare umfassen. Der Phönix war jedoch kein Massenvogel. Er war eine Besonderheit. Zudem kannten die Alten Ägypter zur Pharaonenzeit die Flamingos. Das belegen sehr treffende Darstellungen auf Reliefs. Ein Flamingozeichen gehörte sogar zu den Hieroglyphen. Also können Flamingo und Phönix/Benu ursprünglich nicht identisch gewesen sein, mag auch alles Übrige bestens passen. Das erklärt sich daraus, dass dem Flamingo nachträglich Attribute des Phönix zugeteilt wurden. Und zwar außerhalb von Ägypten, in Arabien, Persien und China. So weit flogen tatsächlich gelegentlich Flamingos. Ihr Erscheinen verursachte sicherlich Erstaunen und Bewunderung. Aber da war Phönix bereits Mythos geworden. Um seinen Ursprung zu ergründen und seine Bedeutung zu verstehen, müssen wir uns noch genauer mit den Phöniziern befassen.

Diese Seefahrer kamen höchstwahrscheinlich nicht über Land, wie es die Legende von ihrer Abstammung aus Kanaan will, sondern vom Persischen Golf um Arabien herum über das Rote Meer ans östliche Mittelmeer. Sie standen in enger Beziehung mit den ägyptischen Pharaonen. Ihr besonderes Rot stammt von der Purpurschnecke. Sie lieferte den kostbarsten Farbstoff, den Purpur der Antike. Die Purpurschnecke ist eine Meeresschnecke. Die Phönizier entdeckten wie Purpur hergestellt wird und wie man mit ihm färbt. Daraus entstand die griechische Verbindung von Phönix und Flamingos. Auch sie bilden den besonderen, sie so auszeichnenden roten Farbstoff aus Kleinstlebewesen des Salzwassers.

Doch mit ihrem Wundervogel Benu meinten die Ägypter nicht die Flamingos. Dieser kam zwar auch vom Süden wie die Phönizier, aber nicht von den Meeresküsten, sondern aus den innerafrikanischen Sümpfen und Savannen. Sein Erscheinen zeigte besondere Fluten des Nils an, die es tatsächlich nur in sehr langen Zeitabständen gegeben hat. Als Vogel glich er in seiner Statur eher einem Reiher oder einem Kranich. Das Zeichen der Sonne trug er als goldene Strahlenkrone auf dem Kopf. Majestätisch wirkte seine Haltung. Wenn Benu kam, hielt die Nilflut ganz außergewöhnlich lange an. Sie fiel sehr ergiebig aus. Verheerungen richtete sie keine an. Solche Fluten stammten aus dem tropisch-ostafrikanischen Einzugsgebiet des Weißen Nils, nicht vom Blauen aus dem äthiopischen Hochland. Sie bedeuteten reiche Ernten, Wohlstand und Glück für die Menschen am Nil. Deshalb erhofften sie seine Wiederkehr, wenn er nach Abklingen der Fluten wieder fortzog, nach Süden, der Sonne entgegen.

Es gibt ihn tatsächlich und immer noch, diesen Wundervogel, das Urbild des Benu. Es ist der Kronenkranich. Er lebt paarweise, ist eindrucksvoll groß und trägt die Krone aus goldfarbenen Federn auf dem Kopf. Sein Schreiten wirkt würdevoll, königlich. Außergewöhnlich starke Niederschläge, wie sie in Ostafrika in langen Zeitabständen, etwa alle 60 Jahre, auftreten, veranlassten durch großflächige Überschwemmungen Kronenkraniche dazu, nilabwärts auszuweichen. Bis ins sumpfige Nildelta können sie gekommen sein. Das Erscheinen des Benu bedeutete Glück für die Ägypter, deren Wohl und Wehe so sehr von der Ergiebigkeit der Nilflut abhing. Doch Afrika trocknete mehr und mehr aus. Die Feuchtsavannen, der Lebensraum der Kronenkraniche, wichen äquatorwärts zurück. Die Wüste breitete sich aus. Benu kam immer seltener. Die Macht der Pharaonen schwand.

Die neuen Mächtigen, die Römer, konnten mit dem legendären Vogel nichts mehr anfangen. Die Griechen machten ihn zum Phönix. Als Flamingo wirkte er in ähnlicher Mission als Anzeiger ergiebiger Niederschläge über ganz Süd- und Zentralasien hinweg bis nach China. Teile von Benu wurden auf den Flamingo übertragen und zum Mythos des Phönix. Die Römer wussten, dass der Phönix kein Flamingo war und delektierten sich ganz profan beim Verzehr von Flamingozungen. Zwei Jahrtausende später vereinnahmte ihn das mittelalterliche Christentum als Sinnbild für den Auferstandenen. So wandelte sich der Phönix von Benu, dem Glücksbringer Ägyptens, zum Flammenvogel der Antike und mit Eigenschaften des Flamingos zum christlichen Symbol für die Auferstehung. Es gab ihn also, den Phönix. Wirkliche, noch existierende Vögel waren sein Urbild. Im Mythos verschleiert steckt die einstige Bedeutung dieser Wesen für die Menschen. Das macht es so spannend, Phönix, Einhorn, Drache und anderen Fabeltieren nachzuspüren.

Josef Reichholf ist

Evolutionsbiologe,

Ökologe und Wissenschaftsautor. Sein Buch „Einhorn, Phönix, Drache. Woher unsere Fabeltiere kommen“ ist soeben bei S. Fischer erschienen (304 S., 19,95 Euro)

Josef Reichholf

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