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Wissen: Der gemeißelte Kalender

Ein Granitblock zeigte den Inkas den Beginn von Herbst und Frühling. So konnten sie präzise das Datum bestimmen

Intihuatana - „der Ort, an dem man die Sonne fesselt“. So lautet die deutsche Übersetzung für einen markanten Stein, der den höchsten Punkt der Inka-Stadt Machu Picchu markiert. Noch immer streiten Experten darüber, welchem Zweck das terrassenförmige Ensemble in fast 2400 Metern Höhe einst diente. Intihuatana, der aus einem Granitblock herausgemeißelte Quader, könnte bei dieser Frage helfen. Zumindest fand der Berliner Wissenschaftler Dieter Herrmann über diesen Stein starke Argumente für die Theorie, wonach die im 15. Jahrhundert errichtete Stadt den Inkas eine astronomisch-religiöse Kultstätte war.

Der bis zu 67 Zentimeter hohe Block, so viel ist bereits bekannt, wurde als Schattenzeiger errichtet. Im Zentrum eines Sonnenobservatoriums ließen sich der Lauf und wechselnde Stand unseres Zentralgestirns verfolgen, als dessen Abkömmlinge sich die Inka-Herrscher sahen. Dabei ging es etwa um die Tage der Sommer- beziehungsweise Wintersonnenwende. Das hatte ganz praktische Gründe. „Den Lauf der Sonne genau zu kennen, war für ein Volk, das Ackerbau betrieb, ungeheuer wichtig“, sagt Herrmann, ehemaliger Direktor der Archenhold-Sternwarte in Berlin-Treptow. „Denn die Zeitpunkte für Aussaat und Ernte mussten exakt bestimmt und eingehalten werden, vor allem wenn man in einer Gebirgsregion lebt.“ Daneben benötigte man auch einen guten Kalender, um die religiösen Feste – besonders die zu Ehren der Sonne – feiern zu können.

Daher interessierte sich der Astrohistoriker bei seinem Besuch in Machu Picchu Anfang dieses Jahres besonders für den Sonnen-Kalenderstein. Grundlegende Arbeiten dazu hatte bereits in den 1920er Jahren der deutsche Astronom Rolf Müller geleistet. Er hatte den Stein genau vermessen und seine Ausrichtung bestimmt.

Unverhofft geriet nun auch Herrmann in die Schar der Interpreten: durch die vor Ort geäußerte Hypothese eines Guides, dass der Stein am 21. Dezember, der peruanischen Sommersonnenwende, keinen Schatten zeige. Nun liegt Machu Picchu auf einer geografischen Breite von 13,2 Grad Süd. Zur peruanischen Sommersonnenwende steht die Sonne aber bei 23,5 Grad im Wendekreis des Steinbocks. Folglich kann sie nicht über Machu Picchu im Zenit stehen, was aber Voraussetzung dafür wäre, dass der Intihuatana keinen Schatten wirft. „Er bliebe nur dann schattenlos, wenn er eine Neigung aufweist, die nach Betrag und Richtung der Sonnenposition zur Sommersonnenwende entspricht“, sagt Herrmann.

Er war elektrisiert und suchte nach Fotos mit genauen Aufnahmedaten, um aus dem Schattenwurf die eventuelle Neigung zu bestimmen. Aus dem berechneten Sonnenstand und der Länge des Schattens im Verhältnis zur Höhe des Steins ermittelte Herrmann dann die Neigung des Intihuatana-Blocks. „Dabei trat etwas Überraschendes zutage: Die südliche Fläche des Steins ist um etwa 13 Grad nach Norden geneigt. Sie zeigt damit auf jenen Punkt am Himmel, in dem sich die Sonne zum Herbst- und Frühlingsanfang mittags befindet“, sagt er. „Zu diesem Zeitpunkt zeigt die südliche Fläche tatsächlich keinen Schatten.“

Der schattenlose Stein markiert also nicht – wie vom Fremdenführer behauptet – die Sommersonnenwende, sondern Frühlings- und Herbstbeginn. „Die Sonnenwenden im Juni und Dezember können auf andere Weise bestimmt werden“, sagt Herrmann. „Diese Möglichkeit allerdings hatte bereits Müller erkannt.“

Nach Meinung des Astrohistorikers ist die neu entdeckte Eigenschaft des Intihuatana ein starkes Argument dafür, dass Machu Picchu wohl eher eine astronomisch-religiöse Kultanlage war als einfach nur der Sommersitz des herrschenden Inka, wie vielfach geäußert wurde.

Für Axel Wittmann, Geschäftsführer der Gauß-Gesellschaft, in deren „Mitteilungen“ der Aufsatz Herrmanns jetzt veröffentlicht wurde, ist die Geschichte damit nicht zu Ende. „Die astronomische Bedeutung des Intihuatana ist bisher nur von wenigen Fachwissenschaftlern untersucht worden.“ Der Stein sei in seiner Gestalt noch wesentlich komplizierter, merkt er an. „Er wird sicher noch Stoff für weitere Entdeckungen bieten.“ Allerdings sei der Quader durch den Tourismus bereits beschädigt und gefährdet.

Das gilt für Machu Picchu als Ganzes. Über den Sinn und Zweck dieser Hochgebirgsstadt gibt es keine Überlieferungen. War sie eine königlich-religiöse Zufluchtsstätte der Inkas oder ein Sommersitz des Inka Pachacuti oder hat sich Machu Picchu zu Zeiten der spanischen Eroberung gar noch im Bau befunden? Um das Rätsel zu lösen, können Astrohistoriker einiges beitragen, sagt der Lateinamerika-Forscher Hans-Otto Dill, emeritierter Professor der Humboldt-Universität Berlin: „Herrmanns Interpretation von Machu Picchu ist korrekt. Überlieferungen von einem Frauenkloster, dessen wehrhafte Insassinnen in den Urwald flohen und dort ein Amazonenreich gründeten, sind Conquistadoren-Mythen.“ Die Stadt war aus seiner Sicht als Begräbnisstätte der Inkaherrscher religiöses wie astronomisches Zentrum.

Der Fachartikel ist nachzulesen unter http://www.leibniz-sozietaet.de/journal/archive/12_11/04_herrmann_db.pdf

Bernhard Mackowiak

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