zum Hauptinhalt
Auch Liebesgeschichten gehören selbstverständlich zum islamischen Kulturkreis, hier eine persische Illustration zur klassischen orientalischen Erzählung von Leila und Madschnun.

© Staatsbibliothek zu Berlin, Orientabteilung

Der Islam, der Koran und die Bilder: Ein anderes Bild der Muslime

Wer muslimisches Leben verstehen will, sollte sich von der Fixierung auf den Koran lösen. Die Berliner Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer plädiert in einem Gastbeitrag dafür, den Islam nicht nur als Religion, sondern als vielschichtige Kultur zu sehen.

Der Islam ist in aller Munde, und die Debatte kreist im Wesentlichen um ein Buch – das Buch der Bücher, den Koran. Der Islam wird weithin nur noch als Religion gesehen, nicht als Kultur, die sich zwar mit dieser Religion verknüpft, in ihr aber doch nicht aufgeht. Dementsprechend gelten als die authentischen Vertreter des Islam und der Muslime nur mehr Theologen, Juristen und Imame und, wie es scheint, auch Islamisten unterschiedlicher Couleur. Nicht aber Intellektuelle, Künstler und „ganz normale“ Gläubige, die zwar an Gott und den Propheten glauben, aber deswegen nicht jede Kleinigkeit ihres Lebens am Koran und dem Propheten ausrichten.

Ein "un-begreiflicher" Gott

Der Islam als Religion hat eine klare Botschaft: Er spricht von dem Einen Gott als dem allmächtigen und allerbarmenden Schöpfer, dem seine Geschöpfe Dank und Gehorsam schulden. Den Namen Gottes dürfen Muslime wie Christen, aber anders als Juden, aussprechen. Und tatsächlich findet sich „Allah“ nicht nur in alltäglichen Wendungen, die hart an die Profanierung reichen können, sondern auch als häufiger Bestandteil männlicher Eigennamen. So großzügig die meisten Muslime mit dem Namen Gottes umgehen – ein Bild von ihm dürfen sie sich ebenso wenig machen wie Juden und Christen. Gott ist für sie im Wortsinn un-begreiflich, nicht darstellbar.

Gott ist sich selbst genug und bedarf seiner Geschöpfe nicht, er ist ihnen aber zugewandt. Wie der Gott der Juden und der Christen hat er Forderungen und Erwartungen an seine Geschöpfe: Er verlangt Anerkennung und Respekt, Verehrung und Gehorsam. Die Gläubigen erkennen dies an. Die wahre Religion, die aus dieser Erkenntnis erwächst, ist der Islam: Hingabe an Gott.

Überzeitliche Gültigkeit der heiligen Schrift

Gott teilt sich den Menschen nach islamischer Lehre mit, ganz allgemein durch Natur und Kosmos, im Besonderen aber durch das Wort, wobei sich Schrift und Rede in höchst interessanter Weise miteinander verbinden. Aus dem Koran selbst leitet sich die Vorstellung ab, im Himmel werde eine Urschrift verwahrt, die „Mutter aller Bücher“, die den Menschen zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichen Sprachen offenbart wurde. Die letzte, ultimative Offenbarung ist der Koran, der zunächst rezitiert wurde (das arabische Wort qur’an bedeutet nichts anderes) und einige Zeit nach dem Tod Muhammads als Buch niedergeschrieben wurde. Damit besaßen die Muslime, wie vor ihnen die Juden und Christen, gleichfalls eine heilige Schrift.

Wenn Muslime heute gefragt werden, worauf sich ihre Religion stützt, so werden sie in der Regel sagen: auf den Koran als unverfälschte, direkte Gottesrede und die Sunna als die Überlieferung der Aussprüche und Handlungen des Propheten Muhammad, der die göttliche Weisung vorbildlich und verbindlich umgesetzt hat. Beide sind in einen konkreten Zeit-Raum eingebettet – die Westküste der Arabischen Halbinsel in der ersten Hälfte des 7. nachchristlichen Jahrhunderts – und, ebenso wichtig, an die arabische Sprache gebunden. Dennoch sollen sie überzeitlich gültig sein, und diese Spannung zwischen historischer, von niemandem bestrittener Einbettung und überzeitlicher Gültigkeit stellt die Muslime vor eine ähnliche Herausforderung wie die Juden und Christen.

"Der Koran ist ein schwieriges Buch"

Der Islam, so wie er sich im Koran darstellt, tritt ganz explizit als Schriftreligion auf und beurteilt nach diesem Muster alle anderen Kulte und Weltanschauungen. Als Religion gelten demnach nur diejenigen Glaubenslehren, die ebenso strukturiert sind wie er selbst, indem sie den Einen Gott verkünden und eine Offenbarungsschrift besitzen. Nicht umsonst firmieren Juden und Christen im Koran als „Schriftbesitzer“.

Der Koran ist ein schwieriges Buch, schwierig in Hinsicht auf den Inhalt, der keine geradlinige Erzählung enthält, schwierig mit Blick auf die verschiedenen Erzählstile und nicht zuletzt die arabische Sprache selbst, die im Original nicht immer eindeutig zu entschlüsseln und ungemein schwer in andere Sprache zu übertragen ist. Dabei gilt, dass der Koran als Gottesrede im Prinzip allen Gläubigen zugänglich ist, die vielleicht eines Kundigen bedürfen, um einzelne Passagen verstehen zu können, denen aber kein Klerus den Zugang versperrt.

Der protestantische Zug des Islam

Insofern könnte man sagen, dass dem Islam – lange vor der Reformation – ein protestantischer Zug innewohnte. Er bedurfte und bedarf auf jeden Fall keines Martin Luther, um dem gemeinen Mann (und der gemeinen Frau) Zugang zur heiligen Schrift zu verschaffen. Daraus folgt freilich nicht, dass der Koran in der Vergangenheit das Leben und Denken der Muslime in allen Einzelheiten bestimmte. Die meisten richteten sich eher an menschlichen Autoritäten aus, an Schriftgelehrten, Sufis und Heiligen von allerlei Art.

Nie aber war der Koran so präsent wie heute, sei es als Buch, das an jeder Straßenecke zu erwerben ist, sei es als Kalligrafie, sei es als Rezitation in Rundfunk und Fernsehen, im Straßenverkehr, im privaten Umfeld. Seine Allgegenwart ist ein modernes Phänomen, Ergebnis nicht nur der Alphabetisierung, sondern vor allem einer umfassenden Medialisierung. Wenn heute allenthalben das protestantisch anmutende „sola scriptura“ (allein durch die Schrift) ertönt, so ist dies Ausdruck spezifisch moderner Verhältnisse. Es ändert nichts daran, dass der Koran weder ein Handbuch der Ethik noch des Familien-, Straf- und Wirtschaftsrechts ist und dass Weisungen und Gesetze Ergebnis menschlicher Interpretation sind und damit immer zugleich Ausdruck von Machtverhältnissen.

Manche Muslime zeichnen Muhammad

Die meisten Muslime sind heute davon überzeugt, dass Muhammad als Prophet zwar in allen Dingen Vor-Bild ist, man sich aber auch von ihm kein Bild machen dürfe. Das war nicht immer so oder auf jeden Fall nicht in allen muslimischen Milieus: Vor allem aus dem mongolisch-persisch-türkischen Sprach- und Kulturraum sind zahlreiche Buchmalereien erhalten, die Muhammad und andere vom Islam verehrte Propheten darstellen. Manche zeigen ihn mit verhülltem Haupt oder einem goldenen Flammennimbus, andere mit vollem Antlitz. Die Grenze zur Karikatur jedoch, die Muhammad nicht ehrend darstellt, sondern herabwürdigend, war immer klar gezogen. Mir ist keine einzige von Muslimen veröffentlichte Muhammad-Karikatur bekannt.

Das viel diskutierte Bilderverbot im Islam jedenfalls gilt so allgemein nicht, selbst wenn viele Muslime anderer Überzeugung sind. Zunächst stehen nicht Bilder generell zur Diskussion, sondern figürliche Abbildungen in zwei- oder dreidimensionaler Gestalt. Dahinter verbirgt sich die Vorstellung, der Künstler könne versuchen, seiner Figur Odem einzuhauchen und daher, wie Gott, als Schöpfer aufzutreten. Fotografie und Film dagegen gelten weithin als unproblematisch, da hinter ihnen die bloße „Ablichtung“ stehe, kein kreativer Akt. Dem würden Film- und Fotokünstler zwar widersprechen, es öffnet aber selbst in rigiden Milieus Räume. Auch Saudi-Arabien und Iran verwenden seit längerem Passbilder (auch für Frauen), Saudi-Arabien erlaubt zwar keine Kinos, wirbt für das eigene Land und Regime jedoch mit Bildern, und der Islamische Staat setzt zu Werbezwecken ganz gezielt Film und Videos ein.

Heilige Stätten ohne Menschen oder Tiere

Wichtig ist die Unterscheidung in unterschiedliche Räume und Texte: Moscheen und Madrasen, traditionelle höhere islamische Schulen, sowie der Koran und die Prophetentradition enthalten keine figürliche Abbildungen. Architekturzeichnungen, Pflanzen, Arabesken und sonstiges Dekor finden sich in ihnen, aber weder Menschen noch Tiere.

Dagegen sind wichtige Genres der religiösen Literatur wie die Prophetenlegenden, die Erzählung von der Himmelfahrt Muhammads, Darstellungen des Jüngsten Gerichts, des Paradieses und der Hölle nicht selten illustriert, wenngleich die erhaltenen Manuskripte wiederum überwiegend aus dem mongolisch-persisch-türkischen Raum stammen. Die heiligen Stätten der Muslime in Mekka, Medina und Jerusalem sind in Gebets- und Pilgerbüchern, auf Fliesen und Teppichen abgebildet, allerdings ohne Menschen oder Tiere. Paläste, Bäder und Wohnungen als nichtreligiöse Räume dagegen sind und waren in weiten Teilen der islamischen Welt auch mit Figuren geschmückt. Zu den bekanntesten Beispielen zählen vielleicht die Darstellungen der Pilgerfahrt nach Mekka und Medina auf den Außenmauern von Privathäusern.

Wer sich die Freude gönnt, „islamische“ Manuskripte, Bücher, Illustrationen und Kalligrafien zu studieren, wird daran erinnert, dass der Islam neben der Religion eine Kultur ist, für die nicht allein die Theologen und die Ideologen stehen. Der Koran ist in seiner Bedeutung für die Muslime unbestritten, aber der Weg zum Verständnis muslimischen Lebens und islamischer Kultur, gleichgültig ob in der islamischen Welt oder in Europa, führt nicht allein über die Schrift. Die Fixierung auf den Koran und die geradezu obsessive Ausdeutung noch des letzten Nebensatzes (wenn nötig, in deutscher Übertragung) spiegelt das Islamverständnis derer, denen man den Alleinvertretungsanspruch auf den Islam gerne aberkennen möchte.

Die Autorin ist Professorin für Islamwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Der Text basiert auf einem Vortrag, den sie kürzlich an der Staatsbibliothek zu Berlin gehalten hat.

Gudrun Krämer

Zur Startseite