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Hochkonzentriert. Ein Junge rezitiert den Koran bei einem Lernwettbewerb. Das Foto entstand 2016 in einem Vorort von Damaskus in Syrien.

© picture alliance / abaca

Von Rezitation in der Religion: Die Erforschung des „heiligen Klangs“

Wissenschaftlerinnen der Arabistik und Semitistik der Freien Universität Berlin untersuchen die Vortragsweisen religiöser Texte.

Es klingt, als sängen sie: Imame, Priester und Kantoren. Die Rezitation sorge für einen besonderen Charakter, sie schaffe den „heiligen Klang“, sagt Ulrike-Rebekka Nieten. Trotzdem sei es nicht richtig, von Gesang zu sprechen. „Hinter der Rezitation steckt ein komplexes wissenschaftliches System“, erläutert die promovierte Semitistin, die auch Musikwissenschaftlerin und Musikerin ist. Mit der Arabistik-Professorin Angelika Neuwirth leitet sie das Projekt „Austauschprozesse in den Rezitationen heiliger Texte aus dem iranisch-mesopotamischen Raum: Bedrohtes Erbe der Juden, Christen, Mandäer und Muslime“. Das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Vorhaben besteht aus zwei Teilprojekten: Erstens untersuchen die Wissenschaftlerinnen den Einfluss jüdischer Vortragstraditionen auf ostsyrische und mandäische Rezitationen. Im zweiten Teilprojekt, das von der promovierten Arabistin Stephanie Schewe bearbeitet wird, liegt der Fokus auf iranischen und irakischen Rezitationsweisen des Korans.

Das Wichtigste ist der Text

Das Rezitieren, also der gehobene Vortrag, unterstreicht Ulrike-Rebekka Nieten zufolge die besondere Bedeutung eines Textes. „Religiöse Schriften wie die Bibel, der Koran und die Torah sind die Grundlage der Glaubensgemeinschaften. Man liest sie nicht einfach vor, sondern gibt sie mit einer bestimmten Vortragsweise wieder.“ Das Wichtigste sei aber der Text. „Die melodische Umkleidung dient dazu, die Satzstrukturen des Textes wiederzugeben und wichtige Stellen hervorzuheben.“

Lange habe man angenommen, dass der melodische Vortrag vieler heiliger Schriften im Vorderen Orient improvisiert sei. „In einem vorherigen Projekt konnten wir das Gegenteil beweisen. Es ist genau geregelt, wie ein Text rezitiert werden soll“, erklärt Stephanie Schewe, die ebenfalls Musikwissenschaft studiert hat. In dem Vorläuferprojekt mit dem Titel „Die Rezitation heiliger Texte – Formgebende Austauschprozesse zwischen syrisch-aramäischen Gesangstraditionen und der Koranrezitation“ wertete Ulrike-Rebekka Nieten Werke von syrisch-aramäischen Grammatikern aus der Zeit vom 6. bis zum 13. Jahrhundert aus und kam zu dem Schluss, dass die Vortragsweisen durch die grammatikalische Struktur eines Textes bestimmt werden. „Die Rezitationsregeln der syrischen Kirchen West und Ost schreiben zum Beispiel vor, dass ein Konsekutivsatz – also ein Satz, der eine Folge angibt – musikalisch mit einer Tonerhöhung dargestellt werden soll.“ Die Betonungen hätten dazu beigetragen, einem hörenden Publikum den Text besser zu vermitteln.

Jüdische und christlich orientalische Praktiken prägen

Im aktuellen Projekt betrachten Ulrike-Rebekka Nieten und Stephanie Schewe Religionsgemeinschaften im iranisch-mesopotamischen Raum. Die Region, die heute hauptsächlich den Irak und den Iran umfasst, zeichnete sich durch konfessionelle und kulturelle Vielfalt aus, die sich in den Rezitationstraditionen widerspiegelt. Die Vortagspraktiken seien vor allem durch jüdische und christlich-orientalische Einflüsse geprägt: „Wir finden aber auch Überschneidungen zu islamischen Gesangstraditionen“, sagt Stephanie Schewe. Ihr zufolge weisen islamische Rezitationen ein ähnlich komplexes grammatikalisches System auf, wie die syrisch-aramäischen Gelehrten es für ihre heiligen Schriften entwickelten. „Auch die sogenannten Tajwid-Regeln, also Vorschriften, wie man den Koran vorzutragen hat und die Wörter richtig ausspricht, sind verbunden mit der syntaktischen Struktur des Textes“, erklärt die Arabistin und Musikwissenschaftlerin.

Vortragstraditionen sind für alle Religionen identitätsstiftend

Dass die Rezitation eines religiösen Textes sehr genau geregelt ist, bezeuge den Respekt, den die Gläubigen den Schriften entgegenbrächten. „Die Vortragstraditionen sind identitätsstiftend für alle Religionen, die wir untersuchen“, sagt Ulrike-Rebekka Nieten. Überhaupt hätten die Religionen mehr gemein, als es in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen den Anschein habe. „Klare konfessionelle Grenzen, wie wir sie heutzutage manchmal wahrnehmen, gab es früher nicht.“ Es sei wichtig, Gemeinsamkeiten wie ähnliche Rezitationstraditionen stärker herauszustellen, um zu sehen, wie eng die Religionen im Vorderen Orient miteinander verbunden seien.

Besonders glücklich sind UlrikeRebekka Nieten und Stephanie Schewe darüber, dass sie Rezitationen der Mandäer untersuchen können. Der Mandäismus gilt als letzte gnostische Religion, und obwohl die Glaubensgemeinschaft zu den ältesten der Welt gehört, ist bisher in der Forschung nicht bekannt, wie sie ihre heiligen Texte wiedergeben. „Mandäer rezitieren eigentlich nicht vor fremden Personen. Sie befürchten, dass ihre Religion entheiligt wird“, sagt Ulrike-Rebekka Nieten. „Ein uns bekannter Priester, der in den Niederlanden lebt, hat uns aber einige Texte vorgetragen. Da haben wir Gemeinsamkeiten zu christlichen Rezitationen und zu Koranrezitationen festgestellt.“ Durch das Projekt seien zum ersten Mal überhaupt mandäische Gesänge aufgenommen und in Noten verschriftlicht worden.

Kulturelles Erbe der Rezitation ist bedroht

„Es ist höchste Zeit, die Forschung auf diesem Gebiet voranzubringen“, betont Stephanie Schewe. Das kulturelle Erbe der Rezitation sei heutzutage bedroht, zum Beispiel, weil es zu den mündlich vorgetragenen Praktiken selten schriftliche Ausführungen gebe. Hinzu komme, dass viele Christen aus dem Vorderen Orient, etwa aus Syrien oder dem Irak, im Exil lebten; das Gleiche gelte für die Mandäer. „Im Exil stehen die Menschen vor so vielen Herausforderungen. Sie müssen eine neue Sprache lernen, eine Arbeit finden – da ist es schwer, Traditionen zu pflegen und weiterzugeben“, konstatiert Ulrike Rebekka Nieten.

Eine andere Gefährdung sieht Stephanie Schewe darin, dass insbesondere Koranrezitationen immer stärker medial verbreitet und die Vortragsstile vereinheitlicht werden. „Hörerinnen und Hörer gewöhnen sich an eine Rezitationsweise“, sagt sie. Dabei stünden oftmals Musik und Melodie im Vordergrund, weniger die Struktur des Textes. „Wer ‚schöner‘ rezitiert, wird häufiger gehört“, konstatiert Ulrike-Rebekka Nieten.

Dieses Jahr soll noch ein Buch folgen

Die Arbeit von Ulrike-Rebekka Nieten und Stephanie Schewe stößt auf internationales Interesse; unter anderem präsentierten sie ihre Ergebnisse an den Universitäten von Boston, Buenos Aires und Seoul sowie auf zahlreichen internationalen Kongressen. Für dieses Jahr ist geplant, ein Buch über ihre Forschungen zu veröffentlichen, und zwar in der von ihnen gegründeten Schriftenreihe „Musica sacra orientalis“.

Derzeit stehen die Wissenschaftlerinnen vor einer Herausforderung. Eigentlich wollten sie nach Großbritannien, in die Niederlande und den Iran reisen, um dort liturgische Gesänge von Rezitatoren aufzunehmen. „Die Pandemie macht uns derzeit einen Strich durch unsere Pläne.“ Aber sobald die Lage es zulasse, soll sie weitergehen, die Erforschung des „heiligen Klanges“.

Anne Stiller

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