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Vermessenes Hirn: Gibt es bei Tests zwischen Gehirnen von Männern und Frauen keine Unterschiede, ist dies oft nicht der Rede wert. Unterschiede werden aufgeblasen.

© picture-alliance/ dpa

"Die Geschlechterlüge": Biologie als Neurosexismus

Der Trend, Ursachen für Geschlechtsunterschiede im Hirn und nicht in der Gesellschaft zu suchen, ist ungebrochen. Doch oft sind diese Studien völlig unwissenschaftlich - dienen aber dazu, Vorurteile gegen Frauen im wissenschaftlichen Gewand zu präsentieren.

Der Titel klang viel versprechend. „Das Geschlecht im Bildungswesen, oder: Eine gerechte Chance für Mädchen“ hieß das Buch, das der Harvard-Professor Edward Clarke 1873 veröffentlichte. Binnen einer Woche musste es nachgedruckt werden, so groß war das Interesse. Doch wer eine Streitschrift für die Rechte der Frau erwartet hatte, wurde enttäuscht. Geistige Arbeit, schrieb Clarke, ziehe wichtige Energie aus den Eierstöcken ins Gehirn und sei deshalb nicht bekömmlich für das weibliche Geschlecht.

Fast 150 Jahre sind vergangen, seitdem Clarke seine kruden Thesen verbreitete. Fast möchte man über sie lachen, so rückständig erscheinen sie. Doch Cordelia Fine ist das Lachen vergangen. Für das gerade bei Klett-Cotta erschienene Buch „Die Geschlechterlüge“ hat die Psychologin aktuelle Sachbücher zur Genderfrage untersucht. Ihr Fazit: Gerade heute werden die irrwitzigsten Vorurteile gegen Frauen wieder im biologischen Gewand präsentiert; eine wichtige Rolle spielen dabei die Neurowissenschaften. Immer neue Untersuchungen aus diesem Gebiet untermauern die These von Männern, die denken, und Frauen, die fühlen. Oft genügen diese Studien nicht einmal wissenschaftlichen Minimalanforderungen. Doch der Trend, Ursachen für Geschlechtsunterschiede im Hirn und nicht in der Gesellschaft zu suchen, ist ungebrochen.

Neurosexismus nennt Fine, die in Australien lebt, den Hauptfund ihrer Lektüre – und der klingt dann etwa so: Eine Frau sei neuronal besser dazu in der Lage, „den Papierschnipsel, die Hundehaare, das in die Sofaritze geschobene Spielzeug“ wahrzunehmen, schreibt der bekannte US-amerikanische Therapeut Michael Gurian. Und in Louann Brizendines Bestseller „Das weibliche Gehirn“ heißt es, eine Frau reagiere auf den Stress zwischen Familie und Beruf mit „überlasteten Gehirnschaltkreisen“.

Was ist dran am weiblichen Multitasking?

Doch Fine hat nicht nur solche haarsträubenden Beispiele für verwissenschaftlichte Diskriminierung zusammengetragen. Vor allem hat sie die Studien, auf die sich die Autoren beziehen, einem Wissenschafts-TÜV unterzogen. Zum Beispiel wird gern auf die bei den Geschlechtern unterschiedlich starke Lateralisation des Hirns verwiesen, nach der die linke und rechte Hemisphäre beim Mann stärker getrennt sein sollen. In populären Sachbüchern wird daraus meist ein männliches Hochleistungshirn konstruiert, das voller Konzentration Spezialaufgaben löst – das weibliche Pendant kann dagegen besser simultan kochen und die Kinder versorgen. Weibliches Multitasking eben.

Fine widerlegt diese Hypothese mit einer Metastudie zur Lateralisation von Sprache. Geschlechtsunterschiede zeigten sich nur in den Teilstudien mit kleinen Stichprobengrößen, insgesamt ergaben sich keine. Fine folgert daraus, dass Wissenschaftler keineswegs neutral sind, sondern höchst selektiv mit ihren Untersuchungsergebnissen verfahren: In die Öffentlichkeit gelangen nur diejenigen, die von Differenzen berichten. Die anderen wandern in die Schublade. Wenn kein Unterschied da ist, gibt es auch nichts zu berichten, und außerdem passt so ein Fund auch nicht ins gängige Konzept.

Unser aller Selbstbild als Männer und Frauen wird von sozialen Erwartungen an die Geschlechter geprägt, argumentiert Fine. Wir nehmen andere und uns selbst durch die Linse von Rollenstereotypen wahr – und handeln auch brav dem Klischee entsprechend. Fine belegt dies durch Studien. So wurden Studentinnen und Studenten gebeten, ihre sprachlichen und mathematischen Fähigkeiten einzuschätzen, wobei einige von ihnen vorher in einem Kästchen ihr Geschlecht ankreuzen mussten. Prompt stuften die Frauen ihr mathematisches Können herab und die Männer ihres herauf, anders als die Frauen und die Männer der Vergleichsgruppe, die ihr Geschlecht nicht ankreuzen sollten. Offenbar ist die suggestive Kraft der Geschlechterrollen so stark, dass man sich ihnen, kaum wird man durch ein kleines Kästchen an sie erinnert, sofort anpasst.

Ein noch erstaunlicherer Effekt zeigte sich, als Probanden die im Raum gedrehte Variante einer dreidimensionalen Figur identifizieren mussten. Normalerweise liefert dieser Rotationstest die verlässlichsten Geschlechtsunterschiede und Männer schneiden überdurchschnittlich gut ab. Kein Wunder, könnte man sagen, Frauen haben eben ein miserables räumliches Vorstellungsvermögen. Männer unter Umständen auch: Wenn man ihnen mitteilte, dass ein gutes Testergebnis auf eine besondere Eignung für Blumenarrangements und Innenausstattung hindeute, verloren sie ihren Vorsprung. Vielleicht, folgert Fine, sind weniger unterschiedliche Fähigkeiten, sondern ein unterschiedliches Maß an Motivation für Leistungsdifferenzen verantwortlich: In den Disziplinen, in denen wir qua Geschlecht gut sein sollen, geben wir uns besonders Mühe. Bei den anderen versuchen wir es gar nicht erst.

Dennoch tragen Eltern gern mit komischer Verzweiflung vor, dass sie ihre Tochter ja unbedingt geschlechtsneutral erziehen wollten, sie die Spielzeugautos aber trotzdem jeden Abend liebevoll in den Schlaf wiege. Nur Kinderlose könnten behaupten, es gäbe keine angeborenen Geschlechtsunterschiede. Alle Menschen mit Kindern wüssten es besser.

Söhne werden überschätzt, Töchter unterschätzt

Fine äußert Zweifel an dieser These und stützt sich dabei wiederum auf Studien. So sprechen Mütter mit ihren sechs Monate alten Töchtern mehr als mit gleichaltrigen Jungen. Und als Mütter von elf Monate alten Babys gefragt wurden, welche Steigung ihre Kinder auf einer Rampe krabbelnd bewältigen könnten, wurden die Söhne konsequent überschätzt und die Töchter unterschätzt. Demnach sind Mädchen sprachlich gewandter und Jungen motorisch geschickter, weil ihnen selbst wohlmeinende Eltern unbewusst von Anfang an mehr Neigung in der einen oder anderen Richtung unterstellen. Das passt zu einem – von Fine nicht erwähnten – wichtigen Fund der Forschung. Inzwischen konnte man mittels bildgebender Verfahren zeigen, dass sich Hirnaktivitäten durch Einfluss von außen verändern: Wer viel kommuniziert, hat ein Gehirn, in dem die dafür zuständigen Bereiche stark ausgebildet sind. Unterschiede im Hirnscan von Mann und Frau belegen also keineswegs eine biologische Determiniertheit. Eher scheinen sie gesellschaftliche Ungleichheiten bei der Rollenzuweisung abzubilden.

Dass Cordelia Fine ihre Schlussfolgerungen mit Studien unterfüttert und diese akribisch beschreibt, macht das Buch streckenweise mühsam zu lesen, aber auch in weiten Teilen überzeugend. „Die Geschlechterlüge“ leistet angesichts der anhaltenden Fülle von (populär-)wissenschaftlichen Veröffentlichungen, die gesellschaftlich gemachte Ungleichheiten zwischen Mann und Frau zur Natur erklären, wichtige Aufklärungsarbeit.

Auch zum Frauenthema der Stunde steuert Cordelia Fine die passende Studie bei. Als man 100 Universitätsmitarbeiter bat, von zwei fiktiven Jobbewerbern, einem Mann und einer Frau, den besseren auszuwählen, entschied sich die Mehrheit für den Mann. Dabei hatten beide identische Lebensläufe – das einzige Unterscheidungsmerkmal war ihr Geschlecht. Und damit hat die Autorin eigentlich alles zum Thema Quote gesagt.

- „Die Geschlechterlüge“, Cordelia Fine, Klett-Cotta, 476 Seiten, 21,95 Euro

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