zum Hauptinhalt

Geschichte der Katalyse: Die Schlüsselreaktion der Moderne

Chemische Prozesse lösten historische Umbrüche aus – heute dominiert die Katalyse.

Dr. Benjamin Steininger ist Visiting Postdoctoral Fellow am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin und Wissenschaftler im Exzellenzcluster der TU BerlinUniSysCat.

Steinzeit, Bronzezeit, Eisenzeit – in weiter archäologischer Ferne werden ganze Epochen auf bestimmte Materialien bezogen. Aber was ist der Stoff der Gegenwart? Silizium oder Erdöl? Glasfaser oder Plutonium? Eine zentrale Rolle für die Moderne spielt vermutlich weniger ein einzelner Stoff als vielmehr die chemische Gestaltbarkeit von Prozessen: Die Moderne ist das Zeitalter der Katalyse.

Ein guter Grund für uns im Exzellenzcluster UniSysCat, nicht nur naturwissenschaftliche Katalyseforschung zu betreiben, sondern sich auch mit den gesellschaftlichen Auswirkungen zu beschäftigen. Es waren gesellschaftliche Bedürfnisse, die chemische Innovationen ermöglicht haben, umgekehrt haben diese wiederum neue technische und politische Spielräume eröffnet. Archäologen der Zukunft werden anhand von Stoffen und deren Verbreitung die Moderne als scharf von vorherigen Epochen abtrennbare Zeitschicht identifizieren: durch Kunstdünger massiv angewachsene Biomasse, Kunstfasern und Plastikpartikel sowie weitere Milliarden Tonnen Produkte der Petrochemie.

Chemische Innovationen als Antreiber der Industrie

Wilhelm Ostwald prägte 1901 die Definition des Katalysators: „Ein Katalysator ist jeder Stoff, der, ohne im Endprodukt einer chemischen Reaktion zu erscheinen, ihre Geschwindigkeit verändert.“ Ab dem späten 19. Jahrhundert entwickelte sich die chemische Industrie auf der Basis dieser Erkenntnisse von einem randständigen Gewerbe zu einem der bedeutendsten Antreiber der historischen Dynamik.

Katalysatoren ermöglichen Reaktionen, die wie im Falle der Haber-Bosch- Synthese genauso viel Stickstoff binden und in die Biosphäre einspeisen wie alle Bakterien des Globus zusammen. Chemie im Labormaßstab greift auf diese Weise in große, planetarische Zeitläufe ein. Die Wucht und die Geschwindigkeit, mit der katalytische Innovationen die Moderne seit 1900 geformt haben, ist beeindruckend: Als erster historischer Meilenstein gilt die Entwicklung des Schwefelsäurekontaktverfahrens in den 1890er- Jahren bei BASF.

Platinkatalysatoren ermöglichen die massenhafte Verfügbarkeit eines bis heute zentralen Schlüsselstoffes. Ab 1910 lässt sich mit dem Haber-Bosch-Verfahren zur Hochdrucksynthese Ammoniak aus Luftstickstoff herstellen. Sprengstoffe und Düngemittel aus Ammoniak werden zum strategischen Faktor des Ersten Weltkriegs. Düngemittel prägen bis heute die industrialisierte Landwirtschaft und machten das globale Bevölkerungswachstum überhaupt erst möglich.

Schlüsselstoffe des „modern way of life“

Parallel dazu lässt sich an dem Verfahren aber auch Überdüngung und der Verlust von Biodiversität sowie Artensterben festmachen. Mit dem Einsatz künstlicher Katalysatoren in der Kohlenwasserstoffchemie werden ab den 1930er- und 1940er-Jahren weitere Schlüsselstoffe des „modern way of life“ massenhaft produzierbar: Motorenkraftstoffe für den Zweiten Weltkrieg wurden unter anderem durch die Herstellung flüssiger Kohlenwasserstoffe aus Kohle ermöglicht. Gleichzeitig wurde so ein Grundstein für die globale Welle der Automobilisierung, der Zersiedelung und des Flugverkehrs gelegt. Petrochemisch basierter Kunststoff fand 1953 massenhafte Verbreitung, nach Einführung des Ziegler-Natta-Verfahrens zur Niederdruck-Polymerisation von Olefinen.

Zeitversetzt schießen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weltweit zahlreiche sozio-historische Parameter steil nach oben: Bevölkerungswachstum, Verkehrszahlen, Verstädterung, Klimadynamiken, Rohstoffverbrauch, Verlust von Artenvielfalt, CO2-Konzentration. Diese „Great Acceleration“ im 20. Jahrhundert ist ohne ihre chemische Basis nicht zu deuten. Nicht selten werden frühere Weltlösungsprojekte wie etwa günstige Plastikprodukte heute als globales Problem diskutiert.

Daher steht die Chemie heute in der Pflicht, Langzeit- und Fernwirkungen jetziger Entscheidungen von Anfang an mitzudenken. Gerade wenn Technik über künstliche Moleküle in alle historischen und gesellschaftlichen Prozesse oder sogar in unsere eigene Biochemie eingreift, ist Geschichte nur als System aus gesellschaftlichen und wissenschaftlichen, aus strategischen und ökonomischen Wirkmechanismen zu deuten. Bei aller Sorge über die aktuellen Herausforderungen bietet diese Ambivalenz jedoch auch Hoffnung, die Potenziale der Katalyse in Richtung neuer, nachhaltiger Ziele zu nutzen.

Benjamin Steiniger

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false