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Wissenstempel. Der Trend geht weg von Institutionen (hier die HU-Bibliothek), hin zu dezentralen Gruppen. Wikipedians ist ihre Wissensarbeit oft gar nicht bewusst.

©  C. Gateau/dpa

Digitale Wissenskultur: Die neuen Gelehrten des Netzes

Das Internet verändert die Wissenskultur - hin zu partizipativem, demokratischem Forschen. Die Prinzipien wurden schon seit den 1920ern entwickelt. Ein Gastbeitrag.

Die Kritik an den Parallelwelten des Internets reißt nicht ab. Mal wird besorgt festgestellt, dass sich Meinungsghettos bilden, die radikalisierend wirken. Mal wird auf die Enträumlichung und Verkürzung unseres Denkens im digitalen Modus hingewiesen. Mal der Ausverkauf unserer materiellen Kultur beklagt. Kaum in den Blick gerät die dramatische Veränderung unseres Wissens. Schon Bibliotheken wussten mehr als Menschen: Das Internet schickt sich an, unsere Wissenskultur von Grund auf zu verändern. Wie wird unser Wissen dem Netz eingepasst?

Hierzulande gibt es darauf keine Antwort, man muss amerikanische Sachbücher bemühen, die technisch fundiert, aber nach den Gesetzen des Bestsellers und ohne historische Tiefe argumentieren. Dabei gilt gerade in digitalen Zusammenhängen der Lehrsatz der Wissenschaftsgeschichte: Jede technische Entwicklung ist historisierbar. Der Stanforder Kommunikationswissenschaftler Fred Turner etwa beschäftigt sich mit technikbewegten Aussteigern im Kalifornien der sechziger und siebziger Jahre, die später zu Protagonisten des Silicon Valley avancierten.

Das Buch wird als "Wert an sich" wahrgenommen

Kulturkritik, also jetzt: Kritik am Netz, gibt es hier wir dort. Der Buchhistoriker und ehemalige Direktor der Harvard-Bibliotheken Robert Darnton, der Zürcher Wissenschaftshistoriker Michael Hagner, der Literaturwissenschaftler Roland Reuß betonen das Analoge am Buch. Lesetechniken, Wissensorganisation, materieller Rahmen ließen sich nicht in die digitale Domäne übertragen. Dabei wird das Buch partout nicht als transitorisches Wissensmedium, sondern als zeit- und technikenthobener „Wert an sich“ wahrgenommen. So bleibt auch die kulturkritische Pointe unerfasst: Die Generation, die inmitten dröhnender Rockmusik und Fernsehen hätte verwahrlosen müssen, bricht nun eine Lanze für das Buch.

Derweil scannt Google weiter, boomt Wikipedia, und Open Access kämpft sich voran. Die Torhüter des Wissens, die Geisteswissenschaften, haben ausgedient. Selbst der Abgesang bleibt stimmlos. Es fehlt an Überblickdarstellungen oder Fallstudien, die Eigenschaften digitalen Wissens benennen, sie historisieren und auf dieser Basis die kognitiven Gewinne und Verluste identifizieren.

Nun sind Eigenschaften wie Demokratisierung, Partizipation, Unabgeschlossenheit, Vernetzung, Vergemeinschaftung nicht einfach vom Himmel gefallen, als das Internet „öffentlich“ wurde. Sie entstammen historischem Arsenal. Seit den 1920er Jahren treten dezentrale Gelehrtenkulturen auf den Plan, in denen Wissen eher sozialisiert als kanonisiert wird, insbesondere in anwendungsfernen Fächern wie Quantenphysik und Staatsrecht. Wissen zirkuliert hier ausgerechnet in bildungsbürgerlichen Episteln und wird bei Hauskonzerten diskutiert.

"Unsichtbare Colleges" als frühes Gegenprogramm zu Großinstitutionen

Diese „unsichtbaren Colleges“ lassen sich als Gegenprogramm zu den Großinstitutionen der preußischen Wissenschaftspolitik begreifen, die Wissen zentralisiert und „planwirtschaftlich“, also „öffentlich“ organisiert. In den Worten Adolf von Harnacks, des ersten Präsidenten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft: Forschungsfabriken wie die Materialwissenschaften, Landwirtschaft, Völkerkunde häufen arbeitsteilig Daten an, die andernorts zu Wissen gefügt werden. Unsichtbare Colleges dagegen lernen, indem sie ihren Mitgliedern das Privatissimum des informellen Austauschs ermöglichen. In der industriellen Moderne bestehen öffentliches und privates Wissen nebeneinander, und die Veröffentlichung privaten Wissens erfolgt „gestaffelt“. Es spricht vieles dafür, dass diese Staffelung in der digitalen Wissenskultur aufgehoben wird.

Die „brauchbare Illegalität“ (Niklas Luhmann) klandestiner Wissenszünfte wurde in den sechziger Jahren von den Protestbewegungen übernommen, die ihre Arbeit als Wissen von unten, als kontinuierliches „Gegengutachten“ zum herrschenden Diskurs verstanden. Spätestens hier spielt die digitale Technik in ihrer sozialen Bindekraft eine entscheidende Rolle, zumindest in den USA. Während Verwaltungen Computer als Rechner und Datenspeicher verstanden, begannen die kalifornischen Tüftler zentrale Glaubenssätze der Revolution wie (spirituelle) Erweiterung der Persönlichkeit und kommunalen Lebensstil technologisch zu unterfüttern. Hier floriert bereits die digitale Fiktion eines händischen Zugriffs, des Werkzeugs, dem die Computer zuarbeiten, nicht entgegenstehen. Dass Computer „personal“ wurden, der Hacker zu Robin Hood, ist der Leistung dieser technologisch ausgerichteten Kommunarden zu verdanken.

Vielen Wikipedians ist ihre Arbeit am Wissen gar nicht bewusst

Die moderne Dichotomie öffentlich/privat wird obsolet, wenn der „persönliche“ Computer als soziales Werkzeug verstanden wird. Partizipative Wissensarbeit erfolgt bei Wikipedia über eine (fast) barrierefreie Software. Die Konzepte digitaler Wissensarbeit wurden seit den 1920er Jahren historisch quasi „ausgebrütet“: als Gegenbewegung zur Zentralisierung und Planbarmachung von Wissen einerseits, und als „Öffentlichkeit des Privaten“ andererseits.

Wie sich digitale Wissensregime ihrer Geschichte versichern, verdeutlicht ein Blick auf die Konjunktur des liberalen Ökonomen Friedrich Hayek, der auf Deregulierung und Dezentralisierung setzte. Wissen ist für Hayek eine entscheidende Kategorie. Es kommt dem homo oeconomicus intuitiv zu: über das Preissystem, das die Knappheit von Gütern anzeigt. Hayeks Unternehmer agiert aufgrund von „Kennzahlen“, deren Hintergrund ihn nicht interessieren. Ganz abgesehen davon, dass sich Hayeks intuitiver „economic calculus“ in den Beurteilungen von Internetseiten und in den statistischen Gewichtungen der Suchalgorithmen wiederfindet: Wikipedias kognitive Wertschöpfung findet dezentral, partikular und akkumulativ statt. Vielen Wikipedians ist ihre Arbeit am Wissen gar nicht bewusst. Sie sehen die Klicks und Edits als Teil eines Computerspiels. Das ist der Gegenentwurf zum klassischen Experten der Wissensgesellschaft, der über explizites und kohärentes Wissen verfügt.

Das Private wird einmal mehr neu codiert

Der Kategoriensprung der digitalen Wende liegt in der veränderten Teilhabe am gesellschaftlichen Prozess. Menschen, die sich kaum für Geschichte interessiert haben, erforschen ihre Nachbarschaft oder suchen Feldpostbriefe im Familiennachlass. Neues Quellenmaterial ist eines, veränderte Verfügbarkeit ein anderes. Das Private wird einmal mehr neu kodiert: durch den ungestaffelten öffentlichen Raum des Netzes.

Und das Buch? Mit der digitalen Wissenskultur verändern sich unsere Lesestrategien. Die Verknüpfung einzelner Dokumente durch Hyperlinks, Metadaten und Tags führt zu einer vernetzten und prinzipiell unabgeschlossenen Lektüre. Niemand liest das Netz. Anders beim Buch: Es ist autonom rezipierbar, ja, es muss als zusammenhängendes Argument und Narrativ „abgeschritten“ werden. Wobei wir alle – Hand aufs Herz  – aufs Geratewohl in Bibliotheksregalen die „Nachbarn“ unserer Funde in Augenschein nehmen: eine intuitive Zufallssuche. Diese Vertrautheit mit dem realen Wissensraum fehlt den Digital Natives.

Just diese fehlende Orientierung im Wissensraum sollen Suchfunktionen im Netz ausgleichen: von der Volltextsuche in digitalen Büchern über benutzerdefinierte Filter in Datenbanken bis zu Googles Algorithmen. In einem materiellen, registerlosen Buch sucht man anders, genauer, man sucht selbst. Ein Buch „liest sich ein“ durch wiederholtes oberflächliches Überfliegen ebenso wie durch vertiefte und nachvollziehende Lektüre. Des Öfteren wussten wir gar nicht, was wir in einem Buch suchten, bevor wir es finden. Im Netz wissen wir es wirklich nicht. Es fehlt der Sog des kohärenten Narrativs.

Viele Wissenschaftler gucken nicht über ihren Tellerrand hinaus

Unsere Sorge über verändertes Informationsverhalten der Digital Natives sollten wir nicht der Kulturkritik überlassen. Was sagen die Medienwissenschaften? Welchen Beitrag leisten die Wirtschaftswissenschaften, besonders die Innovationsforschung? Was trägt die experimentelle Psychologie bei? Und die Soziologen, die Technikhistorie, die Designforschung?

Das Problem ist, dass viele Wissenschaftler nicht über ihren Tellerrand hinausschauen. Bis heute werden die experimentellen Paradigmen der Kognitionsforschung nicht in die Nutzerforschung implementiert. Die Literaturwissenschaftler könnten das benachbarte Büro der Korpuslinguisten aufsuchen. Und die Kunstgeschichte sollte erkennen, dass Bilder nicht mehr analog, sondern digital sind. Da der Umbau des Schiffes jetzt und auf hoher See erfolgt, können wir nicht warten, bis die Digital Natives Texte produzieren, anstatt sie zu verlinken.

Der Autor ist Literaturwissenschaftler an der Universität des Saarlandes.

Jens Loescher

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