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Experten unter sich: Der Leiter der damaligen Psychiatrischen- und Nervenklinik Karl Bonhoeffer (re. im weißen Kittel) bei seiner Abschiedsvorlesung 1938 im Gespräch mit dem Chirurgen Ferdinand Sauerbruch (re. von ihm) und dem Gynäkologen Walter Stoeckel (li. von ihm). Ganz links im Bild (mit Brille, sich umwendend) sein Sohn, der Theologe Dietrich Bonhoeffer.

© bpk / Staatsbibliothek zu Berlin

Medizingeschichte: Doppelbilder

Die Charité – Universitätsmedizin Berlin setzt sich mit ihrer Geschichte im Nationalsozialismus auseinander, um für die Gegenwart zu lernen.

Es gibt wohl wenige andere Orte, an denen Medizingeschichte und politische Geschichte auf eine so greifbare Weise miteinander verbunden sind. Bis heute stehen vereinzelt Räume in der Charité in Berlin-Mitte leer, wie der Hörsaal der Frauenheilkunde, der einst zu nah an der innerdeutschen Grenze lag. Auch wenn die allermeisten Ziegelbauten in den vergangenen Jahren saniert wurden – in manchen Hinterhöfen zeugen Glasbausteinlampen und graue Fassaden noch von der DDR-Epoche, und Büsten von Ärzten, die ihre Verdienste im Deutschen Kaiserreich erworben haben, erinnern an eine Blütezeit des Hospitals. Daneben sind moderne Gebäude für die Forschung und die Versorgung der Kranken entstanden, auch das Bettenhochhaus hat sich seines rotbraunen Ostberliner Gewandes entledigt und leuchtet silbrig-neu. Die Charité als historischer Ort und die heutige Hochleistungsmedizin und Spitzenforschung – die Charité betreibt als gemeinsamer medizinischer Fachbereich von Freier Universität und Humboldt-Universität eine der größten Universitätskliniken Europas – haben auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun.

Mit einer Ausstellung, Vorträgen und einem künstlerisch gestalteten Rundgang sollen nun historische Schichten sichtbar gemacht und eine Verbindung hergestellt werden. „GeDenkOrt.Charité – Wissenschaft in Verantwortung“ heißt das Projekt, das seit mehreren Jahren läuft und für das die Charité seit 2011 mit der Universität der Künste kooperiert. So beschäftigt sich die Ausstellung, die vom 24. November an in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie zu sehen sein wird, mit dem Universitätsklinikum im Nationalsozialismus. Es ginge jedoch genauso darum, Denkanstöße für die Gegenwart zu geben, sagt die Medizinhistorikerin Judith Hahn, die die Ausstellung maßgeblich mitkonzipiert hat. Die Schau zeige Probleme, die der modernen Medizin inhärent seien, die zwischen 1933 und 1945 allerdings eine „üble, menschenverachtende Zuspitzung“ erfahren hätten, sagt auch Heinz-Peter Schmiedebach. Der Medizinhistoriker hat als Professor für Medical Humanities – eine bundesweit einzigartige Stiftungsprofessur aus Mitteln der Friede-Springer-Stiftung – das Projekt in den vergangenen Jahren mit vorangetrieben.

Wussten die Ordinarien von den Menschenversuchen in den Konzentrationslagern?

So versucht die Ausstellung jener „feinen Verschiebung in der Grundeinstellung der Ärzte“ nachzugehen, die der 1933 in die USA emigrierte Mediziner Leo Alexander bei seinen ehemaligen Kollegen in Deutschland beobachtet hatte. Welche Denktraditionen ließen Mediziner – darunter Karl Bonhoeffer, Professor für Psychiatrie und Neurologie an der Charité und Vater des Widerstandskämpfers Dietrich Bonhoeffer – Zwangssterilisationen sogenannter erbkranker Menschen befürworten? Wussten die einflussreichen Berliner Ordinarien von den Menschenversuchen in Konzentrationslagern, wenn sie Forschungsgelder für diese Studien bewilligten? So wie etwa der 1928 nach Berlin berufene Chirurg Ferdinand Sauerbruch, auch nach dem Krieg für viele der Inbegriff des guten, modernen Arztes, der bei Kongressen und in Begutachtungsverfahren mit diesen Forschungsvorhaben zu tun hatte.

In der Ausstellung wird auch versucht, die Geschichten derjenigen sichtbar zu machen, die als Patientinnen und Patienten in der Charité waren. So sind die Kinderzeichnungen einer Psychiatrie-Patientin zu sehen, die nach einem Unfall als Sechsjährige an einer organischen Gehirnerkrankung litt und zum Opfer der Euthanasie wurde. Solche „Ego-Dokumente“ seien allerdings rar, sagt Judith Hahn. In der Regel seien es überlieferte Krankenakten, die die Fälle aus ärztlicher Perspektive dokumentieren: „Es geht in der Ausstellung auch darum, Leerstellen zu zeigen.“

An solchen Leerstellen setzt die Idee von Sharon Paz, Jürgen Salzmann und Karl-Heinz Stenz an, die im Juni den Wettbewerb um die Gestaltung des Gedenkpfads gewonnen haben. Eine überraschende Entscheidung, denn die Israelin Sharon Paz und die Deutschen Jürgen Salzmann und Karl-Heinz Stenz sind Video- und Performance-Künstler: „Nicht gerade eine typische Truppe, um ein Denkmal zu entwerfen“, meint Jürgen Salzmann. Und so verbindet ihr Konzept mit Stelen an den verschiedenen Stationen des Gedenkpfads skulpturale Elemente mit dem Herzstück des Projekts: einem Video-Rundgang über das historische Gelände.

"Wir wollen eine Verbindung zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart schaffen"

Vorrausichtlich vom Frühjahr 2018 an können Besucherinnen und Besucher die verschiedenen historischen Gebäude mit ihrem Smartphone oder einem ausleihbaren Tablet betrachten und durch das technische Gerät eine andere, eine erweiterte Realität erfassen – Geschichte und Geschichten, die mit dem jeweiligen Ort verknüpft sind. „Augmented Reality“ nennt man dieses Verfahren, das inzwischen in vielen Bereichen zum Einsatz kommt und hier künstlerisch eingesetzt wird: Die tatsächliche Situation, die man durch die Kamera filmt und auf dem Bildschirm des mobilen Geräts betrachtet, wird durch virtuelle Bilder überblendet.

Menschen verschwinden: Eine Station des Video-Rundgangs erinnert an Wissenschaftler, die im Nationalsozialismus aus der Charité vertrieben wurden.
Menschen verschwinden: Eine Station des Video-Rundgangs erinnert an Wissenschaftler, die im Nationalsozialismus aus der Charité vertrieben wurden.

© Montage: Paz/Salzmann/Stenz

So werden die Besucher die ostbraunen Höfe und sanierten Gebäudefassaden der heutigen Charité sehen, den Alltag der Klinik, die Ärztinnen und Ärzte, die über das Gelände laufen, und die Patientinnen und Patienten, die dort untergebracht sind. Gleichzeitig können sie in die Geschichte eintauchen. „Wir wollen nicht nur informieren, sondern einen Erfahrungsraum schaffen, in dem die Besucher anfangen, darüber nachzudenken, wie sie sich in jener Zeit verhalten hätten, wie es ihnen ergangen wäre“, sagt Sharon Paz. „Wir wollen eine Verbindung zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart schaffen.“

Hierfür versuchen die drei Kunstschaffenden, Bilder zu finden, die über die reine Information hinausgehen: Bücher, die aus dem Fenster fliegen – das von den Nationalsozialisten verworfene Wissen – oder Schatten von Menschen, die verschwinden und an die vertriebenen Ärzte und Wissenschaftler erinnern. Auch Spielszenen wie eine Interaktion zwischen Arzt und Patientin werden als Video zu sehen sein. „Die Klinik ist ein sensibler Ort“, sagt Jürgen Salzmann, dem man sich als Patientin oder Patient in gewisser Weise ausliefere – damals wie heute.

Die Grundidee der Medical Humanities ist es, Medizin nicht allein als Naturwissenschaft zu betrachten, sondern ihre kulturelle, politische und soziale Dimension einzubeziehen und damit neue Möglichkeiten für das ärztliche Handeln zu gewinnen. Ausstellung und Gedenkpfad sollen daher nicht nur Geschichte an diesem historischen Ort erzählen, sagt Heinz-Peter Schmiedebach. „Wir brauchen eine wiederkehrende Auseinandersetzung mit dem Thema, gerade auch in Verbindung mit Fragen, die sich in der aktuellen Medizin immer noch stellen. Wir wollen die Diskussion in den Alltag der Charité hineinbringen.“

Nina Diezemann

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