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Zurück in die Zukunft. Die Teilchenschauer, die in den riesigen Detektoren wie dem CMS aufgezeichnet werden, erlauben eine Reise zur ersten Sekunde des Universums nach dem Urknall.

© AFP

Ernüchterung am Cern: Das mysteriöse Teilchen war ein Fehlalarm

Monatelang rätselten Physiker, ob am Cern ein neues Teilchen entdeckt wurde. Umfassende Datenanalysen zeigen nun: Es war wohl ein zufälliges Flackern.

Die Revolution fällt aus, zumindest vorerst. Die Weltmaschine bei Genf hat kein neues und noch dazu äußerst schweres Teilchen entdeckt. Die ungewöhnliche Signatur, die Physikern gleich an zwei Messgeräten aufgefallen war, ist einem Zufall geschuldet. Das zeigen neueste Ergebnisse, die Physiker des Cern auf der Teilchenphysik-Tagung ICHEP 2016 in Chicago präsentiert haben. Sie beenden damit Spekulationen, die Fach- und Medienwelt monatelang umgetrieben hatten. Denn das Standardmodell der Teilchenphysik ist seit der Entdeckung des Higgs-Bosons vor vier Jahren „komplett“, es hat keinen Platz für Zugänge. Das mysteriöse Teilchen hätte dieses Gedankengebäude tief erschüttert.

Nach einer Umbau- und Wartungsphase jagt der Teilchenbeschleuniger LHC am Cern seit Juni 2015 Protonen mit doppelt so hoher Energie aufeinander wie zu vor, und zwar mit 13 Teraelektronenvolt. Bei den Kollisionen wird so viel Energie freigesetzt, dass dabei jede Menge Teilchen entstehen. Die meisten von ihnen zerfallen binnen Sekundenbruchteilen und lassen sich nur anhand ihrer Zerfallsprodukte nachweisen, die Spuren in den Detektoren hinterlassen. Dazu zählen Materieteilchen, aber auch Photonen oder Lichtteilchen.

Die Signaturen können Physiker gut deuten - eigentlich

Wie die Teilchensignaturen im Detektor aussehen oder wie viele Photonen in bestimmten Energiebereichen zu erwarten sind, wissen die Forscher recht gut, soweit sich die Physik dahinter an die Spielregeln des Standardmodells hält. Letzteres beschreibt die Welt der elementaren Partikel der bekannten Materie und deren Wechselwirkung miteinander über die verschiedenen Grundkräfte.

Es umfasst es sechs Quarks und sechs Leptonen. Zwei der Quarks, das up- und das down-Quark, liefern die Zutaten für die uns bekannte stabile Materie aus Protonen und Neutronen in Atomkernen; ein Lepton, nämlich das Elektron, finden wir in der Atomhüllen. An Grundkräften schließt es die elektromagnetische, die schwache und die starke Wechselwirkung sowie deren Mittlerteilchen, die Bosonen, ein. Experimentell vervollständigt wurde das Standardmodell mit der Entdeckung des Higgs-Bosons. Dank des Higgs-Mechanismus erhalten die Materieteilchen überhaupt erst ihre Massen.

Echte Ereignisse sollten immer deutlicher zutage treten

Im Dezember 2015 zählten die Forscher dann bei einer Energie von 750 GeV (Gigaelektronenvolt, eine in der Teilchenphysik übliche Einheit für Energie beziehungsweise Masse) mehr Photonen, als sie erwarteten. „Überrascht hat uns vor allem, dass dieser Überschuss bei zwei verschiedenen Experimenten, nämlich Atlas und CMS zur gleichen Zeit an derselben Stelle aufgetaucht ist“, sagt Peter Mättig. Der Teilchenphysiker von der Universität Wuppertal ist am Atlas-Experiment beteiligt.

Über den Ursprung dieses Photonenüberschusses wollte Mättig von Anfang an nicht spekulieren. Denn sein Ausschlag zeigte sich nur mit einer Signifikanz von zwei bis drei Sigma. Erst ab fünf Sigma sprechen Physiker von einer Entdeckung. Das bedeutet: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein auffälliger Messwert rein zufällig zustande kommt, muss kleiner sein als eins zu 3,5 Millionen. Denn dass in den Daten gelegentlich statistische Schwankungen auftauchen, ist nicht ungewöhnlich. Aber je mehr Messdaten sich anhäufen, umso weniger fallen solche Abweichungen vom erwarteten Wert ins Gewicht. Echte physikalische Ereignisse hingegen sollten mit zunehmender Datenmenge prominenter hervortreten.

Noch nie kollidierten Protonen in einem Experiment mit so hoher Energie

Ob es sich bei einer Extraportion Photonen um eine zufällige Schwankung oder ein Ereignis handelt, lässt sich allerdings gar nicht so einfach feststellen. Eine Datenanalyse ist äußerst langwierig, vor allem wenn die Forscher Neuland betreten wie derzeit am LHC. Nie zuvor haben sie Experimente bei so hohen Kollisionsenergien durchgeführt. In diesem Bereich sollten bei den Protonenkollisionen zwar sämtliche alte Bekannte aus dem Standardmodell auftauchen. Es könnten sich dort aber auch bisher unbekannte Partikel tummeln, die keinen Platz im herkömmlichen Modell der Teilchenphysik haben.

Dazu zählen zum Beispiel supersymmetrische Teilchen. Der Theorie der Supersymmetrie zufolge besitzt jedes Teilchen aus dem Standardmodell einen superschweren Partner, der direkt mit der entsprechenden Wechselwirkung in Verbindung steht. Gesucht wird ebenfalls nach Teilchen der Dunklen Materie. Über diese wissen die Forscher bisher nur, dass sie allein durch die Gravitation mit der gewöhnlichen Materie wechselwirkt. Sollten ihre Teilchen in den Kollisionen am LHC entstehen und instabil sein, könnten sie sich über ihre Zerfallsprodukte bemerkbar machen. Möglicherweise könnte zudem ein schwererer Cousin des Higgs-Bosons existieren, der sich nur mit den höheren Kollisionsenergien erzeugen lässt. Und schließlich hoffen die Teilchenphysiker noch darauf, das Graviton, das Mittlerteilchen der Gravitation, aufzuspüren.

400 Arbeiten beschäftigen sich bereits mit der "Extraportion" Photonen

Die beiden Letzteren könnten der Theorie zufolge am ehesten als Zerfallsprodukte Photonen bei einer Energie um 750 Gigaelektronenvolt produzieren. Doch während sich die Theoretiker bereits eifrig an physikalischen Interpretationen dieser Extraportion Photonen versuchten – mehr als 400 Arbeiten wurden dazu mittlerweile veröffentlicht –, sammelten die Experimentalphysiker weiter fleißig Daten.

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Am Freitag präsentierten dann die Forscher sowohl von Atlas als auch CMS in Chicago ihre Analysen. Sie basieren auf einem rund fünf Mal größeren Datensatz als die im Dezember 2015 vorgestellten Messungen. In beiden Experimenten waren nun keine überschüssigen Photonen bei 750 GeV mehr zu finden. Sie setzten den Spekulation damit erst einmal einen Dämpfer auf. Allerdings habe man sich bei der Datenauswertung ziemlich beeilt. Es stünde noch die Auswertung weiterer Datensätze aus, etwa die doppelte Menge existiere bereits, gibt Mättig zu bedenken. Bis Jahresende hoffe man, diese abgeschlossen zu haben. Es handelt sich also um einen Zwischenstand. Auch läuft die Datennahme kontinuierlich weiter. „Da wird man sicher auch künftig speziell bei Photonen mit 750 GeV nachschauen“, sagt der Teilchenphysiker.

Die Suche nach neuer Physik geht weiter

Selbst wenn die merkwürdige Photonenhäufung an dieser Stelle erst einmal Geschichte ist – umsonst waren die Mühen der Forscher keineswegs. „Die Experimente haben trotz der bisher kurzen Zeitspanne einen Schatz an Ergebnissen hervorgebracht“, sagt Fabiola Gianotti, Generaldirektorin am Cern, in einem Videokommentar. Sie umfassen vor allem neue Präzisionsmessungen im Rahmen des Standardmodells, sie charakterisieren das Higgs-Teilchen genauer als es bisher möglich war; sie werfen aber auch einen Blick auf die Suche nach neuer Physik. In diesem Punkt gibt Gianotti sich zuversichtlich, mahnt aber zu Geduld: „Das wird seine Zeit brauchen. […]Und wir dürfen keine voreiligen Schlüsse ziehen.“ Und der Sprecher des CMS-Experiments Tiziano Camporesi meint: „Wir wären sehr glücklich, wenn wir in den ersten zwei, drei Jahren etwas finden würden.“

Vor allem hat der LHC seit Juni 2015 „erst“ ein Tausendstel jener Datenmenge produziert, auf die die Forscher während der Betriebsphase mit Kollisionsenergien von 13 TeV hoffen. Wir können also gespannt sein, welche neuen Teilchen sie in den nächsten Jahren finden werden.

Felicitas Mokler

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