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Ein Labormitarbeiter pipettiert blaue Flüssigkeit auf ein Trägertablett.

© Sebastian Gollnow/dpa

Forschende begutachten Forschende: Digitalisierung schafft neue Optionen für wissenschaftliche Qualitätssicherung

Ist das Peer-Review-Verfahren für wissenschaftliche Veröffentlichungen noch zeitgemäß? Alternativen werden zunehmend genutzt. Ein Gastbeitrag

In der Corona-Pandemie ist regelmäßig zu beobachten, wie Virologinnen und Epidemiologen ihre Studienergebnisse auf Preprint-Servern veröffentlichen. Noch bevor die Artikel unabhängig begutachtet und anschließend von einem Fachjournal veröffentlicht werden, stehen sie öffentlich zur Diskussion.

Dies dient meist dem Ziel, die Arbeit reif für die Veröffentlichung in einem anerkannten Journal zu machen. Es könnte sich aber auch eine Alternative zum üblichen Peer-Review-Verfahren entwickeln, das als Hindernis für die Forschung kritisiert wird.

Die Gesellschaft ist nicht nur in der Pandemie darauf angewiesen, dass die Wissenschaften Erkenntnisse hervorbringen, auf die sich Regierungen, Unternehmen und die Menschen im Alltag verlassen können. Aber die Kontrollmechanismen stehen in der der Kritik.

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Gegenseitig anonym

Die wissenschaftliche Ausbildung des Nachwuchses an den Universitäten kann die Qualität allein nicht gewährleisten, denn Verfahren des Forschens ändern sich mit dem wissenschaftlichen Fortschritt. Dazu kommt, dass in der Forschung auch Fehler gemacht werden. Man kann etwas übersehen oder sich schlicht verrechnen. Bisweilen können Probleme und Schwächen auch bewusst ignoriert oder verschwiegen werden, bis hin zur Täuschung oder Manipulation von Ergebnissen.

Das Peer-Review-Verfahren wurde zur Qualitätssicherung etabliert. Es wird heute von den meisten wissenschaftlichen Fachzeitschriften und Verlagen, aber auch von anderen Institutionen genutzt, die über wissenschaftliche Ergebnisse oder Vorhaben zu befinden haben. Die Grundidee ist einfach: Jedes Forschungsergebnis, das zumeist in Form eines Papers bei einem Fachjournal zur Publikation eingereicht wird, wird anonym von zwei oder drei Fachkollegen geprüft und bewertet.

Sie geben dann eine Empfehlung zur Veröffentlichung oder weisen auf Fehler oder Schwachstellen hin und schlagen Nachbesserungen vor. Dann geht die Arbeit zurück an die Autoren.

Die Anonymität wirkt dabei in beide Richtungen: Weder wissen die Gutachter, wer die Autoren sind, noch wissen die Autoren, wer das Gutachten schreibt. So kann es sein, dass das Paper einer anerkannten Spitzenforscherin durch einen Doktoranden begutachtet und kritisiert wird, oder dass eine emeritierte Professorin die Aufgabe bekommt, das Forschungsergebnis eines unbekannten Anfängers zu beurteilen. Da niemand weiß, von wem die Arbeit und das Gutachten stammen, spielen persönliche Beziehungen keine Rolle und nur das Ergebnis, die Plausibilität der Argumente und die Überzeugungskraft der Tatsachen zählen. Soweit die Theorie.

Langsam, teuer, undurchsichtig

In der Praxis der hoch spezialisierten Wissenschaften ist die Zahl der Forschenden jedoch begrenzt, die eine Arbeit mit der notwendigen Expertise beurteilen können. Und diese Gutachter sind selbst in der jeweiligen Materie engagiert, haben ihre Überzeugungen und Standards entwickelt und beurteilen auf dieser Basis die Ergebnisse. Sie dürften auch oft Hinweise darauf finden, an welchem Forschungsinstitut die Arbeit entstanden ist, weil Forschungsarbeiten auf anderen aufbauen. Oft reicht schon ein Blick ins Literaturverzeichnis, um sagen zu können, von welchem Lehrstuhl oder welcher Arbeitsgruppe eine Arbeit kommt.

Die begrenzte Anonymität ist eines der bekannten Probleme des Peer-Review-Verfahrens. Es gibt weitere: Als häufigste Kritikpunkte ermittelte der Biologe Matthias Starck von der Universität München in seinem Buch über das Peer Review, das Verfahren sei zu langsam, zu teuer und intransparent. Das Verfahren sei zudem nicht ausreichend standardisiert und nie auf Wirksamkeit getestet worden. Im Ergebnis verhindere es innovative Ideen, „da die Gutachter eher etablierte Wissenschaftler sind, die eine Tendenz haben konservativ zu sein und eher traditionellem Denken anzuhängen“, so Starck. Sie äußerten sich teilweise widersprüchlich und könnten „unfair und voreingenommen gegenüber Frauen, jungen Forschern und Minderheiten“ sein, weil sie etablierte Wissenschaftler und Netzwerke etablierter Arbeitsgruppen bevorzugten.

Ebenfalls 2018 wiesen Martin Hoffmann und Reinold Schmücker vom Philosophischen Seminar der Universität Münster im Jahrbuch für Recht und Ethik darauf hin, dass die Gutachter im Verfahren bevorteilt würden: sie haben bevorzugten Zugang zu neuen Forschungsergebnissen und können andere darin behindern, diese zu publizieren.

Im Verfahren wird zudem nicht nur über Veröffentlichungen entschieden, es wirkt sich auch auf die wissenschaftliche Qualifikation und Berufungsverfahren auf Lehrstühle aus. Veröffentlichungen in angesehenen Fachjournalen machen den Doktor und die Privatdozentin. Wer vorankommen will, braucht erst einmal eine ausreichende Publikationsliste in Journalen, die das Verfahren verwenden.

Fachjournale wählen aus

In absehbarer Zeit kann ohne die etablierten Fachjournale kaum Reputation entstehen. Und ohne sie ist es schwierig, wichtige, seriöse und innovative oder gar revolutionäre Arbeiten zu finden.

Wenn die Veröffentlichung auf dem Preprint-Server oder der offenen Publikationsplattform der Begutachtung vorausgeht, könnten die Verfahren der Anerkennung, Kritik und Korrektur transparent an die Diskussion dort anknüpfen.

Fachjournale müssten ihre Rolle neu bestimmen: Statt die Qualitätssicherung zu organisieren, könnten sie gut geprüfte und inhaltlich wertvolle Studien auswählen. Herausgeber und Beiräte, die selbst aktive Wissenschaftler sind und ihr Feld überblicken, würden lediglich den erreichten Stand prüfen anstatt viel beschäftigte Forschende zu beauftragen und ihren Gutachten hinterherzulaufen.

Das träge Peer-Review-Verfahren durch einen solchen vor allem digitalen Prozess zu ersetzen könnte den Wissenschaften neuen Schwung verleihen – den wir brauchen, um den Herausforderungen der Gegenwart wie der Corona-Pandemie begegnen zu können.

Jörg Phil Friedrich

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