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Ob es gerade zu einer Kernschmelze kommt, lässt sich aus den vorliegenden Messdaten weder belegen noch widerlegen.

© AFP

Fukushima: Die tägliche Dosis (1)

Die Katastrophe in Japan verläuft schleichend. Von einer "teilweisen Kernschmelze" ist nun beim AKW-Betreiber Tepco die Rede. Alexander S. Kekulé erklärt, was davon zu halten ist.

28. MÄRZ 2011, 13:00 UHR "EINE TEILWEISE KERNSCHMELZE IST EINGETRETEN" Das geht ja munter los. Gleich beim ersten Eintrag zum Dossier muss ich das kommentieren, wovor die ganze Welt seit Wochen Angst hatte: "Die Kernschmelze ist eingetreten", heißt es heute aus Japan, wenn auch nur "teilweise".

Die Nachrichten der letzten Tage passten perfekt zu einer klassischen Hollywood-Dramaturgie. Zuerst taten die Atomfirma Tepco und die japanischen Behörden alles, um die "Kernschmelze zu verhindern". Dabei setzt eine Handvoll Helden Leib und Leben ein - als Reminiszenz an Kinohelden wie die "Glorreichen Sieben" oder die "Sieben Samurai" heißen sie "Die Fukushima 50". Trotzdem stieg die Radioaktivität weiter und weiter. Dann stand plötzlich verseuchtes Wasser im Reaktor und gestern kam die (später dementierte) Meldung, die Strahlung sei auf das Zehnmillionenfache des Normalwertes angestiegen. Und heute schließlich, als dramaturgische Klimax, die "Kernschmelze"!

Die wahre Katastrophe in Japan verläuft jedoch nicht so spektakulär wie ein Hollywoodfilm, sie kommt schleichend und in kleinen Häppchen daher. Davon macht auch die "Kernschmelze" keine Ausnahme.

Der Kernbrennstoff in Reaktor 2 des AKW Fukushima Daiichi besteht aus länglichen Uranoxid-Pellets, die in etwa drei Meter langen, etwas über einen Zentimeter dicken Rohren eingeschlossen sind. Die weniger als einen Millimeter dicke Hülle dieser "Brennstäbe" ist aus einer Zirkoniumlegierung (Zirkalloy) gefertigt. Zirkalloy hat ähnliche Eigenschaften wie Stahl, lässt jedoch die für die Kernspaltung benötigten Neutronen fast ungehindert hindurch (man spricht von einem "geringen Wirkungsquerschnitt für den Neutroneneinfang"). Einige Hundert dieser Brennstäbe werden jeweils in offenen Kassetten zusammengefasst, die man als "Brennelemente" bezeichnet.

Für die radioaktiven Stoffe, die bei der Kernspaltung während des Reaktorbetriebes entstehen, gibt es vier Barrieren zur Außenwelt. Die erste ist das Uranoxid-Pellet selbst: Uranoxid ist eine keramische Verbindung mit einem sehr hohen Schmelzpunkt von etwa 2800 °C. In der porösen Struktur dieser Pellets bleibt ein Großteil der Spaltprodukte hängen. Die zweite Barriere ist die Zirkalloy-Hülle des Brennstabes, die oberhalb von 1200 °C nach und nach undicht wird. Solange der Brennstab intakt ist, bleiben alle festen und gasförmigen Spaltprodukte in ihm eingeschlossen.

Um die Brennstäbe fließt das Kühlwasser, das wiederum in der dritten Barriere eingeschlossen ist, dem aus massivem Stahl gefertigten Reaktordruckbehälter. Für den Fall, dass sich der Reaktordruckbehälter samt Inhalt verflüssigt, gibt es außen herum noch eine vierte Barriere, das "Containment". Moderne Reaktoren sind so konstruiert, dass das Containment auch bei einer vollständigen Schmelze des gesamten Reaktorkerns keine Radioaktivität nach Außen lässt - zumindest theoretisch.

Im Bereich des Fukushima-Reaktor 2 wurde nun hoch verstrahltes Wasser gefunden. Das bedeutet, dass das Kühlwasser Kontakt mit undichten Brennstäben hatte, nicht mehr und nicht weniger. Theoretisch könnte das ein einzelner Brennstab sein, der sich für längere Zeit über 1200 °C erhitzt hat. Dann kommt es nämlich zu einer katalytischen Reaktion des Zirkalloy mit Wasser (bei der auch der Wasserstoff entsteht, der bereits zur Explosion zweier Reaktorgebäude führte). Nach und nach zersetzt sich die dünne Zirkalloy-Hülse dabei und wird undicht.

Möglicherweise war in einem oder mehreren Brennstäben auch, zumindest vorübergehend, die Temperatur über 2800 °C gestiegen. Dann wäre das keramische Uranoxid mitsamt der Zirkalloy-Hülle stellenweise geschmolzen. Auch in diesem Fall würden die radioaktiven Spaltprodukte ins Kühlwasser gelangen. Dieser Vorgang war offenbar gemeint, als Tepco heute von einer "teilweisen Kernschmelze" sprach.

Ob "nur" eine Brennstab-Hülle undicht wurde, ob mehrere Brennstäbe undicht sind oder ob zusätzlich einige Uranoxid-Pellets geschmolzen sind, lässt sich anhand der Verstrahlung des Kühlwassers kaum feststellen. Theoretisch könnte man anhand der ausgetretenen Zerfallsprodukte (Isotope) feststellen, ob Pellets zerstört wurden (einige Zerfallsprodukte werden von intakten Pellets weitgehend zurückgehalten). Doch für eine solche Ferndiagnose gibt es keine zuverlässigen Vergleichsdaten. Abgesehen davon veröffentlicht Tepco keine quantitativen Isotopenmessdaten, woraus man wohl schließen muss, dass diese Messungen gar nicht durchgeführt werden.

Für die Risikobewertung hat die Frage, ob nur die Brennstabhülle oder zusätzlich einige Pellets zerstört wurden, als solche keine Bedeutung. Denn eine vorübergehende Teilschmelze der Pellets könnte bereits in den ersten Tagen nach der Notabschaltung eingetreten sein, als der Reaktor noch viel mehr Nachwärme produzierte als jetzt. Angesichts des langen Ausfalls der Kühlsysteme und der bereits eingetretenen Wasserstoffbildung ist es sogar erstaunlich, dass das Kühlwasser (angeblich) erst jetzt radioaktiv geworden ist. Im Klartext: Ob zu Anfang der Havarie eine teilweise Kernschmelze eingetreten ist oder nicht, spielt derzeit keine Rolle. Ob es gerade in diesem Moment zu einer Kernschmelze kommt (was in der Tat bedenklich wäre), lässt sich aus den vorliegenden Messdaten weder belegen noch widerlegen.

Das stark radioaktive Wasser im Reaktorgebäude hat aber durchaus Konsequenzen für die weiteren Reparaturarbeiten im AKW und für die Umwelt. Dazu in Kürze mehr…

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