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Erlernt. n der Forschung ist klar: Als Erstes müssen Kinder lernen, dass unsere Schrift an der Lautform der Wörter anknüpft.

© Thilo Rückeis

Gastbeitrag: Unsere Kinder sind keine Rechtschreib-Chaoten

Einen Verfall der Rechtschreibung bei Schülern gibt es nicht. Ob Fibel oder "Lesen durch Schreiben": Wie die verschiedenen Methoden wirken, hängt vom Lehrer ab.

Im publizistischen Sommerloch ist sie offenbar unvermeidbar: die Debatte über einen angeblichen Leistungsverfall in den Schulen. Aktuell geht es um das Reizthema Rechtschreibung. So verkündet der „Spiegel“ jetzt mit Anekdoten im Boulevard-Stil eine „Rechtschreipkaterstrofe“, für die „absurde“ Unterrichtsmethoden verantwortlich gemacht werden. Ein erstaunliches Urteil, schaut man sich den Forschungsstand an.

Aufgewärmt wird die alte Klage, die Rechtschreibleistungen hätten in den letzten Jahren dramatisch abgenommen. Die repräsentative leo.-Studie von 2011 zeigt dagegen: Der Anteil derjenigen Erwachsenen, die nur unzureichend lesen und schreiben können, ist seit den 1960er Jahren geringer geworden! Auch in den verschiedenen Diktat- oder Aufsatzstudien seit dem Zweiten Weltkrieg findet sich kein genereller Abwärtstrend: Zwar zeigen einige eine Verschlechterung, aber andere eine Verbesserung. Das ist auch kein Wunder. In den Schulen wurde schon damals mit ganz verschiedenen Methoden unterrichtet – wie heute. Lehrer setzen dieselbe Methode mal besser, mal schlechter um, ob Fibel oder „Lesen durch Schreiben“. Darum zeigen auch die Methodenvergleiche kein einheitliches Bild.

Was in der ganzen Diskussion außerdem oft vergessen wird: Vor 50 oder 100 Jahren wurde fehlerfreies Schreiben im gesellschaftlichen Alltag wie auch in der Schule viel wichtiger genommen. Heute hat die korrekte Schreibung generell eine geringere Bedeutung, etwa bei E-Mails und privaten Mitteilungen. Aber auch in Zeitungen gibt es mehr Druckfehler, und die Werbung spielt bewusst mit Schreibvarianten. Das mag man beklagen, aber in dieser Gesellschaft leben die Kinder.

In der Schule fordern neue Ziele und Inhalte ihren Anteil an der Stundentafel, für Deutsch und Rechtschreibung bleibt weniger Zeit. Dafür wird ernster genommen, dass Kinder verstehen, was sie lernen. Dies ist eine der wichtigsten Anforderungen in unserer sich wandelnden Gesellschaft. Und das gilt auch für die Rechtschreibung. Denn je nach Beruf braucht man ganz spezielle Wörter in Briefen und Berichten. Dabei auch Wörter, die es in der deutschen Sprache vor 50 Jahren noch gar nicht gab. Auf Vorrat lernen kann man sie in der Schule nicht. Lernen muss man vielmehr, wie man selbstständig seine eigenen Texte so überarbeitet, dass sie schließlich möglichst fehlerfrei sind und problemlos gelesen werden können – mit allen erdenklichen Hilfen für Zweifelsfälle wie das Nachschlagen im Wörterbuch und das Nutzen von Rechtschreibprogrammen auf dem Computer.

Davon abgesehen bleibt das Problem, auf das einige Forscher zu Recht hinweisen: Zu viele Schüler haben sprachliche Probleme – auch in der Rechtschreibung (und in Mathematik und in den Fremdsprachen …). Aber liegt das an neuen Unterrichtsmethoden?

In der internationalen Forschung ist klar: Als Erstes müssen Kinder lernen, dass unsere Schrift an der Lautform der Wörter anknüpft. Dann schreiben viele „Hunt“ oder „Farat“. Dies ist nicht das Ziel des Lernens, aber eine wichtige Zwischenform, die zudem schon lesbar ist. Ähnlich vereinfachen die Kinder ja auch beim Sprechenlernen die Grammatik und sagen zum Beispiel „die Männers gingten“. An Modellen und konkreter Rückmeldung entwickeln sie die richtigen Formen. So auch beim Schreiben.

Gute wie schwache Rechtschreiber durchlaufen dabei dieselben Stufen, wie Studien aus vielen Ländern zeigen. Die einen nur wesentlich früher, weil sie schon mit Schrifterfahrung in die Schule kommen. Also brauchen die anderen mehr Zeit. Das heißt aber nicht abwarten, sondern anregen, unterstützen, durch gezielte Rückmeldung herausfordern. Denn von selbst lernen die Kinder die Rechtschreibung nicht. Darum werden sie Schritt für Schritt gezielt auf besondere Schreibweisen aufmerksam gemacht. Schon in den 1980er Jahren haben Lehrer unter oder neben die freien Kindertexte eine „Übersetzung in Buchschrift“ geklebt. Aus dieser konnten die Kinder wichtige Wörter in ihre Rechtschreibkartei übertragen und für eigene Übungen nutzen. Andere Lehrer lassen Kinder Wörter zu Rechtschreibbesonderheiten sammeln und sortieren: Was besonders häufig ist, merken sich die Kinder als Faustformel, etwa „lang gesprochenes /i/ fast immer mit „. Ausnahmen wie „Tiger“ oder „Igel“ werden als Merkwörter in den Übungswortschatz integriert. In Rechtschreibgesprächen wird immer wieder gemeinsam über die Schreibung von Wörtern nachgedacht und wiederholt, wie sich die Kinder selbstständig Schreibweisen erschließen können. Diese und andere wichtige Fähigkeiten für das normgerechte Schreiben werden in Diktaten und Aufsätzen nicht überprüft – und Vergleichsstudien dazu aus früheren Zeiten gibt es erst recht nicht.

In welchen Formen Rechtschreibung zum Thema wird, streut beim freien Schreiben allerdings breit – nicht anders als in traditionellen Fibel-Lehrgängen. Kein Wunder, dass sich die Rechtschreibleistungen der Kinder, die nach derselben Methode unterrichtet werden, mehr unterscheiden als die Durchschnittswerte unterschiedlicher Methoden.

- Der Autor ist pensionierter Professor für Grundschulpädagogik- und didaktik an der Universität Siegen

Hans Brügelmann

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