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Geschlechterstereotypen: Auch Mädchen können Mathe

Hartnäckig hält sich der Mythos, Jungen seien für das Fach von Natur aus begabter. Doch das stimmt nicht, zeigt eine Studie.

„Ich bin zu hübsch, um Mathe zu können.“ Ein paar Wochen lang waren in den USA T-Shirts für Mädchen mit diesem Aufdruck zu haben. Nach heftigen Protesten wurden sie wieder aus den Läden genommen. Darüber, wo der Spaß aufhört und der Sexismus anfängt, mag sich streiten lassen. Doch auch die Frage, ob Jungen in Mathe „von Natur aus“ besser sind als Mädchen, wird seit Jahrzehnten immer wieder diskutiert.

Mit den Mythen, die sich um den vermeintlichen mathematischen „Geschlechtergraben“ ranken, haben sich nun die Biochemikerin Janet Mertz und der Mathematiker Jonathan Kane beschäftigt. Sie kommen zu dem Ergebnis: Die Mythen stimmen nicht. Die Wissenschaftler, privat ein Paar, arbeiten beide an der Universität Wisconsin-Whitewater. Sie haben Daten von Hunderttausenden von Schülerinnen und Schülern aus 86 Ländern hin und her gewendet, die den großen internationalen Schul-Vergleichsstudien Pisa und Timss entstammen. Die Ergebnisse sind unlängst in den „Notices of the American Mathematical Society“ erschienen.

Mertz und Kane entkräften vor allem die Hypothese von der größeren Variabilität der männlichen mathematischen Begabung. Mit dieser Theorie, die erstmals im 19. Jahrhundert aufgestellt wurde, war in den USA im Jahr 2005 der damalige Harvard-Präsident Lawrence Summers an die Öffentlichkeit getreten, was eine heftige öffentliche Diskussion auslöste. Summers hatte behauptet, unter Jungen und erwachsenen Männern gebe es mehr mathematisch-naturwissenschaftliche Genies, aber auch mehr Unbegabte. Mädchen und Frauen füllten dagegen eher das Mittelfeld.

Um diese Hypothese zu testen, durchforsteten die US-Wissenschaftler zunächst die Ergebnisse der letzten beiden Timss-Studien von 2003 und 2007. Für diese „Trends in International Mathematics and Science Study“ müssen alle vier Jahre Hunderttausende von Viert- und Achtklässlern aus der ganzen Welt Mathe-Aufgaben lösen. Mertz und Kane interessierten sich vor allem für die Bandbreite der Leistungen, die beide Geschlechter zeigten. Sie stellten fest, dass sie keinesfalls eine feste Größe ist, sondern beträchtlich schwankt.

Während Länder wie Taiwan den Beleg für die These von der größeren männlichen Varianz stützen, ist es in Tunesien genau umgekehrt. Dort zeigen sich größere Schwankungen der Leistungsstärke bei den Mädchen. In Marokko dagegen war die Bilanz ausgeglichen. „Wäre die Hypothese von der größeren männlichen Varianz richtig, dann müssten Jungen in allen Ländern eine größere Bandbreite an Leistungen zeigen“, schreiben die beiden Autoren.

„Mich wundert dieses Ergebnis nicht“, sagt auch Marianne Horstkemper, bis vor kurzem Professorin für Allgemeine Didaktik und Unterrichtsforschung an der Uni Potsdam. „Wir wissen schon länger, dass in der Mathematik die Leistungen der Geschlechter weniger differieren als ihre Selbsteinschätzung.“ Polarisierend wirkten bei den Jungen oft auch die Erwartungen der Lehrer. Einerseits traue man ihnen in Mathe eher Spitzenleistungen zu. Andererseits hätten sie ein Risiko, in allen Fächern aufgrund „schulunangepassten Verhaltens“ schlechter bewertet zu werden.

Die Autoren der US-Studie sprechen sich dafür aus, bei der Ursachenforschung gründlicher vorzugehen. Beispiel Achtklässler in Bahrein: Dort finden sich bei den guten Leistungen gleich viele Mädchen wie Jungen, bei den schlechten Leistungen überwiegen dagegen die Jungen. Sind hier also Jungen weniger begabt? Vielleicht hätten nur die leistungsschwachen Schülerinnen die Schule vorzeitig verlassen müssen, während ihre Brüder bei gleicher Leistung weitermachen durften, geben die Autoren zu bedenken.

Spielt es eine Rolle, ob Schülerinnen und Schüler getrennt oder gemeinsam unterrichtet werden? Die beiden Forscher aus Wisconsin nahm die Daten aus 17 Ländern unter die Lupe, in denen mehr als 15 Prozent der Schüler in reinen Mädchen- oder Jungenklassen unterrichtet werden. In Südkorea, wo Familien teilweise keinen Einfluss auf die Zuteilung ihrer Kinder in getrenntgeschlechtliche oder gemischte Klassen haben, resultierten bei den 15-Jährigen daraus keine Leistungsunterschiede. In Dubai wiederum erzielten Mädchen und Jungen in gemischten Klassen einheitlich weit bessere Leistungen, als jedes der beiden Geschlechter in reinen Mädchen- oder Jungenklassen. Getrennte Klassenzimmer sind also nicht die Lösung.

In Ländern, in denen mathematische „Geschlechtergräben“ erkennbar sind, haben sie sich in den letzten Jahren im Übrigen verkleinert. Kane und Mertz, deren eigener, mathematisch hochbegabter Sohn bei der Internationalen Mathe-Olympiade zweimal Gold gewann, können auch belegen, dass der Gender Gap Index, ein international gebräuchliches Messinstrument für ökonomische und rechtliche Gleichstellung der Geschlechter, mit mathematischen Spitzenleistungen korreliert. Wo gut ausgebildete Frauen leben, profitieren in der Schule demnach Jungen und Mädchen. Eine Win-win-Situation – wenn auch nicht für Verkäufer von T-Shirts mit gestrig anmutenden Aufdrucken. Adelheid Müller-Lissner

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