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Hypochonder: Der Arztbesuch als Droge

Jedes Kribbeln deuten sie als den nahen Tod - aber Hypochonder sind keine Simulanten, sondern krank.

Entertainer Harald Schmidt ist einer. Forscher Charles Darwin war einer. Genauso wie Immanuel Kant und Thomas Mann. Der französische Dramatiker Molière widmete den Hypochondern sogar das Lustspiel „Le malade imaginaire“. Inzwischen werden Menschen, die sich ihre Krankheit nur einbilden, von Ärzten nicht mehr als spleenig angesehen, sondern als psychisch krank.

Hypochondrie gilt dennoch als bizarres Phänomen. Bekannte und Familienmitglieder belächeln die ständig Leidenden. Dabei gehen Hypochonder aus demselben Grund zum Arzt wie alle anderen auch: Letztlich wollen sie gesund werden, wollen vom Arzt eine Entwarnung hören. „Allerdings hält die Erleichterung über einen negativen Befund bei krankheitsängstlichen Menschen nicht lange an“, sagt Gernot Langs, Chefarzt in der Medizinisch-Psychosomatischen Klinik Bad Bramstedt. In dem schleswig-holsteinischen Krankenhaus landen stark Betroffene. 30 bis 40 Arztbesuche im Jahr sind für sie die Regel. Vor Langs haben aber auch schon Kranke Platz genommen, bei denen in wenigen Jahren 300 Arztbesuche zusammenkamen. In Fachkreisen wird das Doctor-Hopping genannt. Ein Patient habe sogar im Warteraum eines Krankenhauses übernachtet.

Als Hypochonder werden Menschen eingestuft, deren Krankheitsängste länger als sechs Monate dauern und damit deren Lebensqualität stark einschränken. „Das Hauptproblem der Patienten ist nicht das Symptom, sondern die falsche Deutung der Symptome“, sagt Langs. Jeder Mensch habe täglich kleinere Beschwerden. Nur gehe nicht jeder davon aus, dass diese zum Tode führen könnten. Nach den Ergebnissen einer Hausarztstudie in Düsseldorf sind 15 bis 30 Prozent der Patienten im Wartezimmer eines Hausarztes Hypochonder. Etwa 10 bis 15 Prozent erleben im Laufe ihres Lebens eine hypochondrische Phase. Experten schätzen zudem, dass es im Schnitt acht Jahre dauert, bis die psychosomatische Störung erkannt wird. Die Patienten von Gernot Langs hegen fast alle Verdacht auf die verschiedensten Arten von Krebs, wenn sie in die Klinik kommen. „Sie klagen über spürbare Körpersymptome“, berichtet er.

Es gebe auch Modeerscheinungen: Nach dem Ausbruch der Rinderseuche BSE häuften sich Fälle angeblicher Creutzfeld-Jakob-Erkrankungen, sagt Langs. Nierenkrebs hat hingegen niemand – vermutlich, weil nur die wenigsten wissen, wo das Organ überhaupt sitzt. Die Vorstellungen über die Funktionsweise des Körpers ziehen bisweilen bizarre Verhaltensweisen nach sich, erzählt Langs. Ein Patient glaubte, unter Herzrhythmusstörungen zu leiden. „Um sein Herz zu justieren, schlug er sich mit der Faust so oft auf den Brustkorb, dass er Hämatome bekam.“

In vielen Gesprächen rollen die Ärzte in Bad Bramstedt den Leidensweg der Patienten auf. Zwölf der 420 Klinikbetten sind für die Krankheitsängstlichen reserviert. Während der Therapie lernen die Patienten, mit der Unsicherheit des Lebens und der Sicherheit des Todes umzugehen. Die krank machende Gedankenwelt soll dabei durchbrochen werden. Langsam und sanft werden die Patienten von ihrer Droge Arzt entwöhnt. Mit einer Bewegungstherapie lernen sie zudem, sich selbst und ihrem Körper wieder mehr zu vertrauen. Denn in allen Fällen ist das Verhältnis zum eigenen Körper gestört.

Zwischen sechs und acht Wochen sind die Patienten stationär in der Klinik. Anschließend sind sie zwar nicht geheilt, aber sie können in 80 Prozent der Fälle besser mit ihren Ängsten umgehen. „Wir gehen davon aus, dass Hypochondrie ein erlerntes Verhalten ist, das man auch wieder verlernen kann“, sagt Gernot Langs.

Kein Mensch kommt als Hypochonder auf die Welt. Wie ein Krebs wuchern die Ängste erst, wenn verschiedene Faktoren zusammenkommen. An der Universität Mainz hat die Psychologin Gaby Bleichhardt zu diesem Thema geforscht. Rund 0,5 Prozent der Bevölkerung leiden ihren Untersuchungen zufolge unter dem Krankheitsbild Hypochondrie. Von störenden Krankheitsängsten seien aber etwa sieben Prozent der Bevölkerung betroffen. „Schlimme Krankheitserfahrungen, die oft bis auf die Kindheit zurückgehen, können die Hypochondrie auslösen“, sagt sie. Das kann eine eigene schwere Erkrankung sein oder die eines Angehörigen. Manchmal sind es auch die Eltern, die ihr Kind mit einem harmlosen Schnupfen ins Bett stecken, um es vor einer Lungenentzündung zu schützen. Nicht zuletzt tragen aber auch Fehldiagnosen der Ärzte dazu bei, dass sensible Menschen zu Hypochondern werden.

Dann beginnt der Teufelskreis: Die Betroffenen hören in sich hinein, entdecken beunruhigende Symptome und können schließlich das Kontrollieren von Körperfunktionen kaum lassen. 80 Patienten hat Gaby Bleichhardt bis jetzt ambulant begleitet. „Bereits nach drei Monaten lassen sich gute Erfolge verzeichnen“, sagt sie. Entgegen der Annahme, dass Männer wehleidiger seien als Frauen, ist die Geschlechterverteilung unter den Hypochondern ausgewogen. Es gibt auch kein typisches Alter. „Ein Fünfzigjähriger, der bisher verschont wurde, wird aber kaum mehr daran erkranken“, sagt Bleichhardt.

Häufig führt die Krankheit in die Isolation, oder sie zieht andere psychische Erkrankungen wie Depressionen nach sich. Rund zehn Prozent der Hypochonder werden auf Dauer arbeitsunfähig. Auffällig ist, dass es in der westlichen Welt mehr Menschen mit Krankheitsängsten gibt als andernorts. „Das ist kulturell bedingt. Wir wünschen uns, völlig gesund zu sein. Deshalb fühlen wir uns nie beschwerdefrei“, sagt Langs. Die Menschen in den Industrienationen haben außerdem einen guten Zugang zu medizinischen Informationen. Sie bilden sich fort – und auch mehr ein.

Das Internet ist eine Fundgrube für Hypochonder. US-Forscher wie Brian Fallon von der Columbia-Universität in New York sprechen bereits von der „Cyberchondrie“: Die Betroffenen recherchieren im Netz ihre Symptome und werden immer ängstlicher. Obwohl das Internet häufig die erste Anlaufstelle für Menschen mit Krankheitsängsten ist, erwarten die deutschen Spezialisten aber nicht, dass die Krankheit in den kommenden Jahren stark zunehmen wird.

Besonders anfällig für übertriebene Ängste scheinen übrigens jene Menschen zu sein, die den Kranken zur Seite stehen. „Medizinstudenten entdecken die Symptome von gerade durchgenommenen Erkrankungen häufig an sich selbst“, erzählt Langs. Das Phänomen „morbus clinicus“ hat er während seines Studiums am eigenen Leib erlebt. Sein Blutabstrich wurde von einem Kommilitonen falsch interpretiert: Verdacht auf Leukämie. „Obwohl es völlig irrational ist, denke ich heute noch bei jeder Blutabnahme an diese Fehlinterpretation“, sagt er. Deshalb kann er sich besonders gut in seine Patienten hineinfühlen. „Die Tendenz, sich zu sorgen, liegt nun einmal in der Natur des Menschen.“

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