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Jens Reich: Ein Wortführer der friedlichen Revolution

Vom DDR-Dissidenten zum Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten: Der Weg des Jens Reich

Am Anfang gab es nur eine Art Flaschenpost. Noch vor der Wende fand sie sich in dem Magazin „Lettre International“ und bestand in einer Analyse der DDR-Befindlichkeit, die den Leser im Westen wegen ihrer Prägnanz und ihrer Resignation gefangen nahm. Der Autor hieß Thomas Asperger; es war das Pseudonym von Jens Reich. Wenig später war er einer der prominenten Namen des Herbstes 1989: Er gehörte zu den Unterzeichnern der Gründungserklärung des Neuen Forums, stand am 4. November bei der Großdemonstration auf dem Alexanderplatz auf jener Lastwagenpritsche, von der aus der DDR der Prozess gemacht wurde, saß in der Volkskammer und war überhaupt im großen Umbruch einer der herausragenden Köpfe. Noch seine Kandidatur bei der Bundespräsidentenwahl 1994 wurde getragen von seiner Rolle in der Zeitenwende.

Da war er längst zurückgekehrt in seinen Beruf als Molekularbiologe. Auch das gehört zu diesem Leben, das in seinem fünfzigsten Lebensjahr in einen neuen, unerwarteten Anfang einbog – um dann die politische Laufbahn auszuschlagen. Unter den Wortführern der friedlichen Revolution ist Reich ohnedies Ausnahme und Regel zugleich. Anders als viele Bürgerbewegte, die keineswegs Bürger sein wollten, gingen ihm die Sympathien für einen verbesserlichen Sozialismus ziemlich ab, die oft in der Ideenwelt der Dissidenten mitschwangen.

Was den Arzt-Sohn aus Böhmen, den die Nachkriegswirren in Halberstadt abgesetzt hatten, in die Reihen der Opposition trieb, war eine konstitutive Querlage zum System.

Auch den naturwissenschaftlichen Beruf, den er höchst erfolgreich ausgeübt hat, habe er, wie er bekannt hat, am Ende wohl gewählt als „vom Marxismus-Leninismus freie Schutzzone“. Denn eigentlich richtete sich seine Leidenschaft auf das Denken und Schreiben. Weshalb seine Form der Dissidenz in der Debatte im kleinen Kreis bestand. Ins politische Aufbegehren schlug sie um, als die eigene Tochter aus dem „Schneckenhausleben“ der Nischenexistenz ausbrach und ausreiste.

Vielleicht hat nur der Mauerbau 1961 verhindert, dass Jens Reich – wie so viele andere – den Weg nach Westen gesucht hat. Was wäre aus ihm geworden? Eine Instanz in der internationalen Wissenschafts-Community, zu der die DDR ihm den Zugang versagte? Ein brillanter Essayist? Es ist eine Frage, die man im Horizont der deutschen Nachkriegsgeschichte stellen muss – und die Reich mit seiner Existenz ins Leere laufen lässt. Denn Reich bietet uns das rare Exempel der Selbstbehauptung, gespeist aus Herkunft, Bildung und Charakterprägung, in der Enge der DDR wie der Offenheit der westlichen Gesellschaft. Keiner hat wie er mit solcher Reflexionskraft und Formulierungsgabe die Wende ausgelotet. Und gehört seither zu dieser wieder vereinten Republik: eine Stimme prägnanter Nachdenklichkeit und innerer Freiheit.Hermann Rudolph

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