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Forschen im Team: der Neurowissenschaftler John-Dylan Haynes (links) und der Philosophieprofessor Michael Pauen

© Matthias Heyde

Humboldt-Universität zu Berlin: Kein Halten mehr unter 200 Millisekunden

Freiheit, Absicht, Wille: Philosophen klären gemeinsam mit Neurowissenschaftlern grundlegende Begriffe und Konzepte menschlichen Verhaltens.

Wenn John-Dylan Haynes und Michael Pauen darüber diskutieren, ob der Mensch einen freien Willen hat, geht es um Sekunden. Der Neurowissenschaftler Haynes untersucht, wie das menschliche Gehirn funktioniert. Schon Sekunden bevor Menschen eine Entscheidung treffen, können Forscher im Hirn die entsprechenden Aktivitäten messen und damit vorhersagen, was jemand tun würde. Haynes wollte genauer wissen, wie frei Menschen demzufolge handeln. Dafür ließ er in einem Experiment Menschen gegen einen Computer antreten und las währenddessen deren Gehirnwellen mittels Elektroenzephalografie (EEG).

Die Probanden bekamen Punkte, wenn sie mit dem Fuß ein Pedal bedienten, während ein grünes Signal auf einem Bildschirm aufleuchtete. Sobald der Computer allerdings via EEG das Bereitschaftspotenzial der Teilnehmer registrierte, ließ er das Signal auf Rot umspringen. Traten die Versuchspersonen nun auf das Pedal, verloren sie Punkte. In vielen Fällen konnten die Teilnehmer ihre Bewegung noch kurzfristig stoppen. Haynes erfasste aber auch einen point of no return: Blendete der Computer das Stoppsignal weniger als 200 Millisekunden vor den ersten Muskelzuckungen der Versuchsteilnehmer ein, waren sie nicht mehr in der Lage, die Bewegung komplett zurückzuhalten. Der Neurowissenschaftler schließt daraus: „Viele Vorgänge bereitet das Hirn unbewusst vor, diese können aber zu einer bewussten Entscheidung – und damit umgesteuert – werden.“

Was das bedeutet, diskutiert Haynes mit seinem Kollegen Pauen. Dieser ist Professor für Philosophie des Geistes und einer der Sprecher der Exzellenzgraduiertenschule Berlin School of Mind and Brain, die am 19. Oktober ihr zehnjähriges Bestehen feiert. Wenn Haynes und Pauen über Willensfreiheit debattieren, geschieht das vor dem Hintergrund der neuen empirischen Erkenntnisse aus der Neurowissenschaft – und es geht darüber hinaus. Haynes Messungen werfen Fragen auf. Wie etwa definiert man (Unter-)Bewusstsein? „Solche normativen Fragen stellt die Philosophie schon seit langem, bringt also einen großen Erfahrungsschatz mit“, sagt Haynes. „Natur- und Geisteswissenschaften arbeiten mit verschiedenen Methoden. Wenn wir nun aus verschiedenen Disziplinen eine gemeinsame Perspektive auf eine Fragestellung erarbeiten, bringt das alle Seiten weiter.“

Die Willensfreiheit als Voraussetzung rechtlicher Verantwortung

In der direkten Auseinandersetzung prallen die Ansichten der beiden auch schon mal frontal aufeinander: Ist es nun vorhersehbar – also determiniert –, wie der Neurowissenschaftler und der Philosoph miteinander argumentieren? Diese Position von Haynes stößt bei Pauen auf Widerspruch, der dem freien Willen deutlich mehr Bedeutung beimisst. Über die Differenzierung zwischen bewusstem und unbewusstem Handeln nähern sie sich dann zum Teil wieder an.

Nun werden die beiden auch miteinander forschen. „Die Willensfreiheit wird oft als notwendig für rechtliche Verantwortung angesehen“, erläutert Haynes. „Für wissenschaftliche Studien zum Problem der Willensfreiheit ist es wichtig, dass sie das Phänomen, welches wir alltagssprachlich als ‚Freiheit’ bezeichnen, korrekt erfassen.“ Zurzeit wird zwar intensiv diskutiert, inwiefern Revisionen wissenschaftlicher Modelle von Willensfreiheit auch Implikationen für rechtliche Verantwortung haben. Das wirft Fragen auf: Ist es gerechtfertigt, jemanden zu bestrafen, der zwar gegen das Gesetz verstoßen hat, aber über keinen freien Willen verfügt? Und was ist überhaupt ein „freier Wille“? Bislang gibt es keine wissenschaftlich fundierte Studie in Deutschland zur Frage, was die Bevölkerung über das Verhältnis von Gehirn, Freiheit und Verantwortung denkt. Diese Erhebung gehen Haynes und Pauen nun an. Das Projekt wird von der Stiftung Humboldt-Universität finanziert.

„Nur durch eine möglichst genaue und repräsentative Vorstellung vom Alltagsverständnis von Freiheit kann sichergestellt werden, dass unsere Experimente tatsächlich das allgemein als ‚Freiheit’ bezeichnete Phänomen erfassen“, sagt Haynes. Nur so könne sichergestellt werden, dass die philosophischen Begriffsanalysen das Alltagsverständnis von Freiheit angemessen berücksichtigen. Dabei geht es nicht darum, diese Analysen durch Umfragen zu ersetzen, sondern sie in Kenntnis des Alltagsverständnisses durchzuführen.

Ist Absicht ein mentaler Zustand?

Mit Willensfreiheit, mentalen Zuständen und den daraus resultierenden Fragen nach Verantwortung befasst sich auch Tatjana Hörnle. Die Professorin für Strafrecht und Rechtsphilosophie hat etwa einen Workshop zusammen mit einem Kollegen aus der Philosophie durchgeführt, um der Frage nachzugehen, wie viel Bewusstsein nötig ist, um Verantwortung tragen zu können. „In der Praxis des Verantwortlichmachens spielt das Konzept der ‚absichtlichen Handlung’ sowohl in der Ethik als auch in der Strafrechtswissenschaft eine zentrale Rolle“, erläutert Hörnle. „Nicht geklärt ist aber, was es heißt, dass eine Handlung absichtlich ist, und warum dies für die Bewertung von Handlungen von großer Bedeutung ist.“ Der Workshop thematisierte, ob Absicht – wie gemeinhin angenommen wird – ein mentaler Zustand ist. „Dadurch können wir zu einem differenzierteren Bild davon gelangen, was es bedeutet, absichtlich zu handeln und wie sich dieses Bild auf unsere Praxis der Verantwortungszuschreibung auswirkt. Davon profitieren beide Seiten.“

Der Artikel ist erstmals in der Beilage der Humboldt-Universität zum Start des Wintersemesters 2016/2017 erschienen.

Lars Klaassen

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