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Behandlung eines Patienten auf einer Intensivstation für Covid-Patienten.

© IMAGO/imagebroker

„Könnte behinderte Menschen das Leben kosten“: Grüne lehnen Triage-Gesetzentwurf von Lauterbach ab

Es ist ein weiterer Dämpfer für den Gesundheitsminister. Der Triage-Gesetzentwurf aus Lauterbachs Haus erntet scharfe Kritik. Auch Ärzte sind empört.

Der Shitstorm fegte gute zwei Tage über den Gesundheitsminister hinweg. Dann, Sonntagnachmittag, zeichnete sich ab: Der umstrittene Triage-Gesetzentwurf aus dem Haus von Karl Lauterbach (SPD), der kurz vor dem Wochenende in die Ressortabstimmung gegangen war, wird in seiner jetzigen Form wohl nicht von den Ampelfraktionen mitgetragen, geschweige denn in den Bundestag eingebracht.

Er soll vielmehr grundsätzlich überarbeitet werden. Das stellte die Grünen-Bundestagsabgeordnete Corinna Rüffer, Berichterstatterin für Behindertenpolitik, klar: „Der auf einem Kompromiss zwischen den Ministern Lauterbach und Buschmann beruhende Referentenentwurf entspricht nicht den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts“, sagte sie dem Tagesspiegel Background.

Der Gesetzesvorschlag aus dem BMG zum Schutz behinderter Menschen in einer pandemiebedingten Triage-Situation sieht vor, dass es künftig auch möglich sein soll, eine bereits begonnene intensivmedizinische Behandlung abzubrechen zugunsten eines Patienten mit höherer Überlebenschance.

In der Praxis würde dies bedeuten, dass Patienten, die schon beatmet werden, im Fall extrem knapper medizinischer Güter befürchten müssten, dass Ärzte ihnen gegen ihren Willen das lebenserhaltende Gerät wieder wegnehmen, um einen Patienten mit besserer Prognose zu retten.

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Ein medizinethischer Tabubruch, der auch juristisch umstritten ist: Die Mehrheit der Strafrechtler in Deutschland wertet ein solches Vorgehen (Ex-Post-Triage) als Totschlag. „Ein unerträglicher Zustand für Patient:innen und Angehörige, aber auch Ärzt:innen, die solche Entscheidungen treffen müssten“, kritisierte Rüffer.

Doch nicht nur deswegen halten die Grünen den Entwurf für „hochproblematisch“, „formal zweifelhaft“ und „ein Einfallstor für diskriminierende Entscheidungen gegen behinderte Menschen“: So halte das BMG bei der Frage, welche Faktoren einzubeziehen sind, um die Erfolgsaussicht eines Patienten zu ermitteln, an dem umstrittenen Kriterium der Komorbidität (mögliche Begleiterkrankungen, die die Prognose verschlechtern können) fest.

„Das könnte behinderte Menschen im Zweifelsfall das Leben kosten“, warnte Rüffer. Auch fehlten ausführliche Dokumentationspflichten, die „unabdingbare Voraussetzung für Transparenz“ seien. Und schließlich habe das BMG darauf verzichtet, Menschen mit Behinderungen und ihre Selbstvertretungen am Gesetzgebungsverfahren zu beteiligen. „Bei einer solch brisanten Frage“, erklärte Rüffer, sei dies „aber unbedingt erforderlich“.
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Ähnlich unumwunden teilte die Grünen-Gesundheitspolitikerin Maria Klein-Schmeink mit, dass die Grünen nicht gewillt seien, den Entwurf mitzutragen, den das BMG federführend, aber offenbar unter erheblicher Einflussnahme des Bundesjustizministers Marco Buschmann (FDP), erstellt hat: „Ein Behandlungsabbruch in einer Triage-Situation stellt einen schwerwiegenden Wechsel in einer grundlegenden medizinethischen Frage dar“, twitterte Klein-Schmeink.

Im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts sei dies „nicht vorgesehen“. Von daher seien „Überlegungen in BMG und BMJ ausschließlich Überlegungen“, fügte sie spitz hinzu.

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Das Rätsel, weshalb sich der Gesundheitsminister den juristisch umstrittenen Passus, der zudem mit dem ärztlichen Berufsethos bricht, offenbar vom BMJ in den eigenen Gesetzentwurf diktieren ließ, blieb auch gestern ungelöst. Unklar ist auch, wie die FDP-Fraktion sich positioniert: „Da zurzeit noch nichts öffentlich ist und alles im Gespräch, möchte Andrew Ullmann zum jetzigen Zeitpunkt noch nichts dazu sagen“, teilte das Büro des gesundheitspolitischen Sprechers der FDP mit.

Offen blieb daneben die Frage, ob und durch wen der Gesetzesentwurf, der den Ampelfraktionen als Formulierungshilfe dienen soll, nun überarbeitet wird.

Ein Sprecher des BMG wich der Antwort aus und schrieb stattdessen, der „aktuelle Stand“ sehe so aus: „Das Bundesverfassungsgericht hat der Bundesregierung aufgetragen, per Gesetz die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen bei Triage-Entscheidungen auszuschließen. Dazu werden wir in Kürze einen Gesetzesentwurf vorlegen. Details dazu können wir aber noch nicht kommentieren. Der Entwurf befindet sich noch in der Ressortabstimmung.“ Ein BMJ-Sprecher wiederum verwies auf das „federführende“ BMG und beschied: „Weitergehendes kann ich nicht mitteilen.“

Die Union sieht einen „Skandal“

Doch mit dieser Haltung will die Opposition die beiden weggeduckten Ampel-Minister nicht durchkommen lassen. Der CDU-Gesundheitspolitiker Hubert Hüppe forderte gestern unverzügliche Aufklärung: „Es ist unverständlich, warum das Bundesgesundheitsministerium die Federführung bekam, obwohl doch Triage vor allem schwerwiegende grund- und verfassungsrechtliche, nicht aber gesundheitspolitische Fragen aufwirft“, sagte er zu Tagesspiegel Background.

Inhaltlich sei der Gesetzentwurf „ein Dokument der Geringachtung des begründeten Anliegens der Menschen mit Behinderung, die erfolgreich in Karlsruhe geklagt haben“. Der gesundheitspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Tino Sorge, nannte es auf Twitter einen „Skandal“, sollte „eine gesetzliche Grundlage zum Behandlungsabbruch allen Ernstes zum Vorschlag der Ampel werden“.

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Die Richterin und Behindertenaktivistin Nancy Poser, eine der Beschwerdeführerinnen vor dem Bundesverfassungsgericht, erklärte auf Anfrage von Tagesspiegel Background: „Der nun durchgesickerte Entwurf zum Triage-Gesetz legitimiert eine Gesellschaft, die allein nach Grundsatz des „survival of the fittest“ entscheidet.“

Schon in einem ersten Entwurf aus dem März sei vorgesehen gewesen, „Menschen, die zwar noch eine Erfolgsaussicht haben, bei denen die ‚Wahrscheinlichkeit‘ des Überlebens jedoch geringer eingeschätzt wird, zugunsten derer nicht zu behandeln, die erfolgversprechender scheinen“, kritisierte sie.

Im aktuellen Entwurf nun solle „auch aktive Tötung durch Behandlungsabbruch und nicht ‚nur‘ Tötung durch Unterlassen möglich sein, um die Starken den Schwachen vorzuziehen“. Sie selbst, so Poser, wundere dies „leider gar nicht, da es nur die logische Fortsetzung der meiner Ansicht nach verfassungswidrigen Entscheidung für eine Triage nach Überlebenswahrscheinlichkeit bei mehreren Menschen mit vorhandener Erfolgsaussicht ist“.

Aktuell beliebt bei Tagesspiegel Plus:

Ärztinnen und Ärzte, die ihr Handeln künftig nach dem Triage-Gesetz – sollte es beschlossen werden – ausrichten müssten, reagierten unterdessen verhalten bis ablehnend auf den Entwurf.

„Die Ex-Post-Triage ist medizinethisch der weitreichendste Eingriff“, erinnerte der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin (DIVI), Christian Karagiannidis, der auch dem Corona-Expertenrat der Bundesregierung angehört. „Eine Festlegung durch das @bmj_bund ist schwierig“, schrieb er auf Twitter. „Es sollte eine weitreichende gesellschaftliche Debatte vorausgehen“, forderte er: „Diese Zeit haben wir und sollten sie uns auch nehmen.“

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Harsche Kritik kam von der Essener Ärztin Maria del Pilar Andrino Garcia, die die Task Force Gesundheit beim Bundesverband Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie leitet: Gemäß meinem ärztlichen Gelöbnis des Weltärztebundes, der UN-Behindertenrechtskonvention und meiner Erfahrung als Medizinerin in der gesundheitlichen Versorgung von Menschen mit Behinderung sehe ich im aktuellen Gesetzesentwurf – und besonders deutlich durch die Legitimation der Ex-Post-Triage – ein Paradoxon sowohl zur Vorgabe des Bundesverfassungsgerichtes als auch zum Aktionsplan 2022 der Bundesregierung für ein diverses, barrierefreies und inklusives Gesundheitswesen“, schrieb sie an Tagesspiegel Background.

Angesichts der Debatte werde „deutlich, dass ein Gesetzesentwurf dringlich partizipativ – also unter Beteiligung von Menschen mit Behinderung – geschrieben werden muss, um den Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes real werden zu lassen“.

Uwe Janssens, Chefarzt der Klinik für Innere Medizin und Kardiologie im St.-Antonius-Hospital Eschweiler und bis Ende 2020 DIVI-Präsident, wies derweil darauf hin, dass ein Triage-Gesetz an sich durchaus im Sinne der Ärzteschaft sei, um Mediziner vor strafrechtlichen Konsequenzen zu schützen.

„Wir Ärzte brauchen Rechtssicherheit, dass unsere Behandlungsteams Einschätzungen zur Prognose eines Patienten abgeben und danach die jeweilige Therapie ausrichten dürfen“, sagte Janssens zu Tagesspiegel Background. „Deswegen ist es gut, wenn es ein Gesetz gibt.“

„Eine Intensivstation ist kein Schlachtfeld“

Auch die Ex-Post-Triage sei im Sinne der Rechtssicherheit zu regeln. Allerdings widerspreche die Vorstellung, Ärzte müssten in einer „aus dem Ruder gelaufenen Pandemie“ ad-hoc entscheiden, wem das Beatmungsgerät weggenommen werde, dem medizinischen Alltag. „Leider verstehen viele Politiker gar nicht, was auf den Intensivstationen abläuft“, beklagte Janssens.

„Eine Intensivstation ist kein Schlachtfeld, wo man als Arzt binnen fünf Minuten Entscheidungen treffen muss, wen man rettet und wen nicht.“ Insbesondere Covid-Patienten verbrächten meistens viele Tage und Wochen auf der Intensivstation, „und manchmal nimmt die Erkrankung tatsächlich einen so schlechten Verlauf, dass man während der Behandlung das Therapieziel ändert und den Patienten sterben lässt“, sagte er.

Sollte dann „im Verlauf einer Pandemie weder im Krankenhaus noch regional, überregional oder in ganz Deutschland eine Ressource für Beatmungen mehr bestehen, müssen Ärzte tragische Entscheidungen treffen“, räumte Janssens ein. Hier würden alle Patienten von einem Expertenteam im Mehraugenprinzip begutachtet.

„Finden sich dann Patienten mit einer nur noch sehr geringen Wahrscheinlichkeit, die akute Intensivtherapie zu überleben, wird sehr offen und transparent diskutiert, diesen Patienten von dem Beatmungsgerät zu nehmen und dessen Sterben zuzulassen.“

Das Beatmungsgerät werde anschließend einem anderen Patienten mit einer besseren Überlebenswahrscheinlichkeit zur Verfügung gestellt. „Das ist ein außerordentlich komplexer Prozess, der sehr viel Erfahrung auf der Behandlerseite benötigt und sicher eine große Belastung für alle Beteiligten darstellt“, erklärte Janssens.

Und „genau für diese bisher noch nicht eingetretene Situation“ benötigten Ärzte eine rechtliche Absicherung, dass diese Entscheidung nicht im späteren Verlauf zu einer strafrechtlichen Bewertung vor Gericht führe. „Daher hoffen wir sehr, dass durch den Gesetzgeber endlich eine für uns Ärzte dringend notwendige Klarstellung der rechtlichen Situation niedergeschrieben wird.“

Heike Haarhoff

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