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Die Humboldt-Universität zu Berlin.

© Doris Spiekermann-Klaas

Kolonialismus muss aufgearbeitet werden: Für eine neue Berliner Universitätsgeschichte

Berlin will seine koloniale Vergangenheit aufarbeiten, vergisst dabei aber die Universitäten. Dass muss sich ändern: Denn sie waren tief in das koloniale Projekt verstrickt.

Gabriele Metzler ist Professorin für Geschichte Westeuropas und der transatlantischen Beziehungen sowie Vorsitzende der Historischen Kommission beim Präsidium der Humboldt-Universität zu Berlin.

Mit der Initiative „Berlin übernimmt Verantwortung für seine koloniale Vergangenheit“, zu der kürzlich dem Abgeordnetenhaus ein Zwischenbericht vorgelegt wurde, soll Berlin ein Verständnis seiner selbst als postkoloniale Metropole finden. Die Zivilgesellschaft sowie die Kultur- und Bildungseinrichtungen sollen an dessen Aushandlung aktiv mitwirken.

In den Bildungseinrichtungen ist das Thema längst angekommen. Im Rahmenlehrplan der Berliner Schulen haben der Kolonialismus und seine Folgen ebenso ihren Platz gefunden wie in den Angeboten außerschulischer Bildungsorte und den Vorlesungsverzeichnissen der Universitäten. Museen wie Hochschulen befragen ihre Sammlungen seit geraumer Zeit auf Provenienz, auch erste Restitutionen sind bereits erfolgt.

All dies wird im Zwischenbericht mit einer gewissen Genugtuung vermerkt. Eine eigene „Forschungsstelle für Kolonialismus“ einzurichten, erscheint, so der Bericht, dem Senat „nicht als zielführend“.

Einbindung der Berliner Universitäten ins koloniale Projekt

Ich halte diese Einschätzung für falsch. Gewiss: Eine ganze Reihe von Forschungsvorhaben an den Berliner Universitäten befassen sich mit Fragen des Kolonialismus und seiner Folgen, im Bereich der Sammlungen gibt es zahlreiche, öffentlich geförderte Aktivitäten. Eine eigene „Forschungsstelle für Kolonialismus“ in diesem Sinne einzurichten, hielte auch ich nicht für notwendig.

Was aber not tut und bislang überhaupt nicht in den Blick genommen wurde – weder von der Politik noch von den zivilgesellschaftlichen Initiativen – ist die Auseinandersetzung mit der Einbindung der Berliner Universitäten in das koloniale Projekt. 

Berliner Universitätsgeschichte in postkolonialer Perspektive

Die Universitäten hatten daran teil, sie engagierten sich für den Kolonialismus, auch über dessen formales Ende 1919 hinaus. Mit einzubeziehen in die historische Bilanz ist freilich auch ihre Bedeutung für antikolonialen Widerstand und für die Genese und Etablierung kolonialer, antikolonialer und postkolonialer Wissensbestände.

Was wir brauchen, ist eine neu konzipierte Berliner Universitätsgeschichte in postkolonialer Perspektive.

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Zwar herrscht kein Mangel an historischen Darstellungen zur Geschichte der Berliner Universitäten und der Charité; zum Teil haben sie, wie etwa die sechsbändige Geschichte der Universität Unter den Linden von Heinz-Elmar Tenorth und anderen, Maßstäbe gesetzt für die Universitätsgeschichtsschreibung. In ihren (post-)kolonialen Dimensionen ist bislang allerdings keine der vier großen Institutionen systematisch untersucht und problematisiert worden.

Es ist jetzt an der Zeit, mit neuen Fragen an die Berliner Universitäten und die Charité heranzutreten, das verstreut vorhandene Wissen zusammenzuführen und andere Blickachsen auf Berlin als Stadt der Wissenschaften freizulegen. 

Enge Verbindungen zwischen Uni, Reichstag, Kolonialverwaltung

Berlin ist auch in dieser Hinsicht keine Stadt wie andere: Nirgendwo anders waren die Verbindungen zwischen Universitäten, Wissenschaften und Kolonialpolitik des Kaiserreichs enger, waren die Wege zwischen Universität, Schloss und Reichstag, Kolonialverwaltung und Kolonialverbänden kürzer.

Die Professoren der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität 1905. Sie konnten sich immer auch Ressourcen bedienen, die durch die deutsche Kolonialherrschaft zugänglich wurden;
Die Professoren der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität 1905. Sie konnten sich immer auch Ressourcen bedienen, die durch die deutsche Kolonialherrschaft zugänglich wurden;

© ullstein bild via Getty Images

Die Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität, die heutige Humboldt-Universität, hatte tonangebende Wissenschaftler in ihren Reihen, an der Charité forschten Mediziner von Weltrang. Sie konnten sich dabei immer auch Ressourcen bedienen, die durch die deutsche Kolonialherrschaft zugänglich wurden; das ist in den human remains aus kolonialen Kontexten in den Sammlungen der Charité schon vor einigen Jahren anschaulich geworden.

Kolonialherrschaft als Ressource hatte jedoch weitere Dimensionen, als sie in den Debatten über die Sammlungen thematisiert werden: Forschung profitierte davon, dass der Zugriff auf Daten aus kolonialen Räumen so einfach war. 

Forschung profitierte vom Kolonialismus

Die großen Forschungsarbeiten der Charité zur Schlafkrankheit, die mit menschenverachtenden Medikamentenversuchen und Umsiedlungsaktionen großen Stils verbunden waren, konnten in den Kolonien stattfinden. 

Für die rechtswissenschaftliche Forschung konnten durch Vermittlung des Kolonialamts Informationen über das jeweils beobachtete „Eingeborenenrecht“ beschafft werden, aus denen sich eine Universalrechtstheorie entwickeln ließ. 

Ich nenne diese Beispiele bewusst um zu zeigen, dass es eben nicht nur die unmittelbar einschlägigen Disziplinen wie Anthropologie oder Geographie waren, die in das koloniale Projekt eingebunden waren. Umgekehrt profitierte die imperiale Politik von der Verbindung, lieferten Berliner Professoren doch zuverlässig Sinnstiftungsangebote.

Eine Bühne für kolonialrevisionistische Vereine

In der Weimarer Republik bot die Universität Unter den Linden den meist in Distanz zur Republik stehenden kolonialrevisionistischen Organisationen eine prominente Bühne: In der großzügigen Aula der Universität (damals in der „Kommode“, der heutigen Juristischen Fakultät am Bebelplatz) fanden in den 1920er Jahren Reichskolonialfeiern statt, die andernorts wohl weniger Zulauf und Aufmerksamkeit gefunden hätten.

Berliner Wissenschaftler unterstützten die Planungen für die Wiederaufnahme der deutschen „kolonialen Betätigung“, wie sie dann vor allem in der NS-Zeit vorangetrieben wurden. 

Auch die inzwischen sehr zu Recht skandalisierte Arbeit von Wissenschaftlern der Friedrich-Wilhelms-Universität am „Generalplan Ost“, der Blaupause für die Neugestaltung Osteuropas für die Zeit nach dem Vernichtungskrieg, entsprang voll und ganz der Kontinuität kolonialer Denkmuster, die sich in diesem Fall auf die Errichtung eines deutschen Kontinentalimperiums richteten.

Kolonien lebten als "Phantasiereiche" fort

Das formale Ende deutscher Kolonialherrschaft 1919 bedeutete demnach keineswegs das Ende kolonialer Denkstile und Deutungsmuster. 

Überhaupt greift es erheblich zu kurz, den deutschen Kolonialismus auf die Jahre zwischen 1884 und dem Ende der Ersten Weltkriegs begrenzen zu wollen. Als „Phantasiereiche“ (so die Historikerin Birthe Kundrus) lebten die Kolonien fort und bestimmten politisches Handeln genauso wie kulturelle Diskurse und Praxen. Für die Wissenschaften, die Universitäten und die Charité, bildete 1919 in ihren kolonialen Sicht- und Arbeitsweisen keine Zäsur.

Die Autorin: Gabriele Metzler, Professorin für Geschichte Westeuropas an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Die Autorin: Gabriele Metzler, Professorin für Geschichte Westeuropas an der Humboldt-Universität zu Berlin.

© promo

Kolonialismus lässt sich nicht auf Landnahme und Beherrschung anderer Völker reduzieren, Kolonialismus barg in sich immer auch eine epistemische Ordnung, die nicht minder langfristige Spuren hinterlassen hat wie der notorische Sarotti-Mohr. 

"Wir" und "die Anderen"

In das koloniale Projekt eingeschrieben sind feste, unhintergehbare Differenzbehauptungen, die durch die modernen (westlichen) Wissenschaften hervorgebracht und gestützt wurden: „Wir“ und „die Anderen“, „Zivilisation“ und „Barbarei“, „Fortschritt und Moderne“ und „Rückschrittlichkeit“.

In den Universitäten fand die Sozialisierung von Eliten statt, die diese Deutungsmuster sich aneigneten und – in den meisten Fällen – nach ihnen handelten. Das zeigt sich auch über die politische Zäsur von 1945 hinweg, wenn man beispielsweise an die Entwicklungsökonomie der Nachkriegszeit und die ihr zugrundeliegende Differenzbehauptung denkt. Dass Rezeption der Arbeiten nicht-westlicher Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen über die Disziplinen nur zögerlich erfolgt, zeigt, wie lange die Überzeugung von der eigenen Fortschrittlichkeit und Modernität in den Universitäten trägt.

Konflikte um Dekolonisation

Die lang anhaltenden, teils in schmutzigen Kriegen ausgetragenen Konflikte um die Dekolonisation wirkten ab den späten 1940er Jahren auch in die Berliner Universitäten hinein. Sie wurden in unterschiedlicher Weise zu Schauplätzen, an denen diese Konflikte – oder besser: die Konflikte um die Deutung der Dekolonisationskämpfe – ausgetragen wurden. Und sie wurden in gewissem Sinne zu Teilhabern, weil und indem sie Akteuren aus den Konfliktregionen Bühnen, wenn nicht sogar Ausbildung oder Anstellung boten.

Die Gründungsversammlung der Freien Universität 1948. Nach der Gründung entwickelten sich auch an der FU kolonialkritische oder anti-koloniale Aktivitäten.
Die Gründungsversammlung der Freien Universität 1948. Nach der Gründung entwickelten sich auch an der FU kolonialkritische oder anti-koloniale Aktivitäten.

© picture-alliance / dpa / bildfunk

Die (1949 umbenannte) Humboldt-Universität verstand sich, ganz auf der Linie der SED, als dezidiert antiimperialistisch. Sie vermittelte ihren Studierenden die marxistischen Grundlagen des Antiimperialismus, blendete dabei aber nicht-marxistische alternative Wissensbestände aus.

Studierende aus ehemaligen oder gerade unabhängig werdenden Kolonien konnten sich an der Humboldt-Universität Wissen für den künftigen Aufbau eines sozialistischen Staats in ihrer Heimat aneignen. Hierin setzte sich gleichsam das antikoloniale Engagement namentlich chinesischer Studenten fort, das in der Universität Unter den Linden in den 1920er Jahren aufgeblüht war.

Aufarbeitung - eine Aufgabe für die BUA

Doch auch an der Freien Universität entfalteten sich seit ihrer Gründung 1948 kolonialkritische oder antikoloniale Aktivitäten. Dass die dort Engagierten ihrer Universität – wie den anderen westlichen Universitäten auch – Komplizenschaft mit dem Imperialismus vorwarfen, deutet nicht nur auf die Position der FU im Kalten Krieg, sondern eben auch auf den Fortbestand kolonialer Denkstile und Deutungsmuster.

Berlin braucht eine „Forschungsstelle für Kolonialismus“, um die koloniale Vergangenheit seiner Universitäten und der Charité systematisch aufzuarbeiten. Es stünde der neu gegründeten Berlin University Alliance gut an, wenn sie sich diese Aufgabe zu eigen machen und die Gründung einer solchen Forschungsstelle unterstützen würde.

Als Metropole der Wissenschaften kann Berlin diese wichtige Dimension der kolonialen Vergangenheit nicht ausblenden. Klug wäre es, sie in vergleichender Perspektive zu bearbeiten, stellen sich ähnliche Fragen auch für andere europäische Staaten. Über Oxford ließe sich in kolonialer Perspektive viel sagen, ebenso über andere Partner in den neuen europäischen universitären Netzwerken. Zur Neuerfindung Berlins als postkolonialer Metropole gehört eine neue, eine andere Geschichte seiner Universitäten unbedingt dazu.

Gabriele Metzler

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