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Kolonialkriege: "Pardon wird nicht gegeben"

Die Deutschen führten ihre Kolonialkriege brutal. Typisch deutsch sei das aber nicht, sagen Historiker. Wilhelms "Hunnenrede" wirkte nach, doch auch andere Heere marodierten.

Von Anna Sauerbrey

Die Soldaten standen ordentlich aufgereiht, die Handkante zum Salut an die weißen Hüte gehoben. Wilhelm II. erklomm eine eigens aufgestellte Empore. Es war der 27. Juli 1900, der Kaiser war nach Bremerhaven gereist. Dort schifften an diesem Tag seine Soldaten nach China ein, um den sogenannten Boxeraufstand zu beenden. Der Kaiser verabschiedete sie auf denkbar martialische Weise: „Kommt ihr vor den Feind, so wird derselbe geschlagen“, hämmerte Wilhelm in seiner berüchtigten „Hunnenrede“. „Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht!“

Jeder Krieg entwickelt eigene Formen von Gewalt, auch extreme Formen: Gewalt, die keine Gnade kennt, Gewalt, wie sie Wilhelm II. dem Ostasienkorps abforderte. Wie sie entsteht und ob sie charakteristisch ist für das deutsche Militär von den Kolonialkriegen bis zum Zweiten Weltkrieg, darüber streiten Historiker seit Generationen. Zurzeit tendiert die Zunft dazu, die „Kontinuitätsthese“ zu verwerfen, also die historische Eigenart jedes einzelnen Krieges zu betonen. Diese Position wird nun erneut mit einer Studie der Freiburger Historikerin Susanne Kuß unterfüttert.

Kuß hat verschiedene koloniale Kriegsschauplätze verglichen und nach den jeweils spezifischen Gründen für Exzesse von Gewalt gefragt. Ihre Antwort auf die Frage, ob es eine fortgesetzte Gewalttradition des deutschen Militärs gibt, eine Verbindung etwa zwischen der Niederschlagung der Aufstände der Boxer oder Herero und den Vernichtungsfeldzügen des NS-Heeres in der Sowjetunion ist ein klares Nein.

„Die Kontinuitätsthese setzt vordergründig auf Eindeutigkeit“, schreibt Kuß in der Einleitung zu ihrem Buch. „Sie bewegt sich im grellbunt-plakativen Reich der Analogien und Vermutungen.“ Kuß wendet sich allgemein gegen die These, es gebe eine zeitübergreifende, deutsche Militärmentalität, die die einzelnen Soldaten gesteuert hätte. Ihrer Ansicht nach entsteht Gewalt vielmehr in der Interaktion mit der Umwelt, mit dem „Kriegsschauplatz“ und seinen spezifischen Gegebenheiten. „Gewalt entwickelt sich immer situativ, sie ist geografisch, aber auch zeitlich gebunden“, sagte die Autorin kürzlich bei einer Buchvorstellung an der FU Berlin. Dabei gehe es nicht darum, die Verantwortung des Einzelnen für die Gewalt zu verneinen, schreibt Kuß, sondern zu zeigen, wie sie im Zusammenspiel von personellen und externen Faktoren entfesselt werde.

Ein Beispiel ist der sogenannte Boxerkrieg, benannt nach der sozialen Bewegung der Yihetuan, einer Milizengruppe, deren Traditionen anknüpfen an chinesische Faustkampfschulen. Die Bewegung richtete sich gegen amerikanische, japanische und europäische Kolonialaktivitäten in China und wurde 1901 niedergeschlagen. Nach den Recherchen von Kuß waren die Soldaten stark „ideologisiert“. Sie kann etwa zeigen, dass Wilhelms Hunnenrede in Liedern aufgegriffen wurde, die die Soldaten auf der langen Überfahrt sangen. Diese Lieder zeigen auch, dass die Soldaten die Chinesen als minderwertig ansahen. „Und weilt ihr erst in China, egal wo es auch sei / Dann bringt den Langbezopften schnell die Flötentöne bei“, heißt es in einem Text. Und weiter: „Die ganze gelbe Sippschaft – haut sie zu Mus und Brei.“

Die lange Seereise hatte noch einen anderen Effekt. Als das Korps in China eintraf, waren die Kämpfe im Wesentlichen schon vorüber. Die Militäroberen kanalisierten nach Ansicht von Kuß daher die Aggressionen der blutlüsternen Soldaten, indem sie sie auf sogenannte Strafexpeditionen schickten. Konkret hieß das, dass die Soldaten systematisch Dörfer plünderten, niederbrannten, die Frauen vergewaltigten und die Männer misshandelten und ermordeten. Dass die Chinesen als relativ wohlhabend galten – sie handelten mit Pelzen und Porzellan – stachelte die Gier der Soldaten weiter an.

Zu den Ursachen für die entfesselte Gewalt in China gehörten neben den äußeren Bedingungen auch die nationalistischen Einstellungen vieler Soldaten. „Gerade für viele Freiwillige war der Nationalismus sicherlich ein herausragendes Motiv, in den Krieg zu ziehen“, sagte Kuß. „Der Hochnationalismus ist die Hintergrundfolie, vor der sich die Auseinandersetzungen abspielen.“

Eine besondere Qualität der deutschen Gewalt in den Boxerkriegen im Vergleich zu Engländern, Amerikanern oder Franzosen kann Kuß aber nicht feststellen. Alle Seiten beschuldigten sich gegenseitig, die Schlimmsten zu sein, objektive Belege dafür gebe es aber nicht. Lediglich die Amerikaner verboten das Niederbrennen ganzer Dörfer.

Auf ähnliche Weise wie den Boxerkrieg seziert Kuß auch die Niederschlagung des Herero- und des Majimajiaufstandes. Sie bleibt dabei stets eng an der Sache. Denn das Buch, so stark es sich auch auf die Kontinuitätsthese bezieht, ist kein geschichtspolitisches. Kuß stützt sich auf die Gewaltsoziologie des emeritierten Siegener Soziologen Trutz von Trotha. Der Schlüssel zur Gewalt, argumentiert von Trotha, sei in der Gewalt selbst zu finden. Für Kuß heißt das, sich in die Quellen zu stürzen, in die mühevolle Hamsterarbeit in den Archiven. 16 Archive im In- und Ausland hat sie durchforstet. Das hat sich gelohnt. Ihr Buch wird, sagte der Berliner Neuzeithistoriker Uwe Puschner bei der Buchpräsentation in Berlin, die weitere Forschung beleben und beeinflussen.

Susanne Kuß: Deutsches Militär auf kolonialen Kriegsschauplätzen. Eskalation von Gewalt zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Berlin 2010. Ch. Links Verlag. 500 Seiten, 49,90 Euro.

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