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Gruppentherapie. Schreibblockaden haben oft psychologische Ursachen.

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Lange Nacht der Hausarbeiten: Ambulanz gegen Aufschieberitis

Lange Nacht der aufgeschobenen Hausarbeiten: Das Studentenwerk Berlin bietet Hilfe gegen unterbewusste Schreibblockaden. Dort lernen Studierende, wie man Texte klar organisiert.

„Atmen Sie tief ein“, sagt Michael Over in den stickigen Raum hinein. „Erinnern Sie sich daran, wie Sie Ihre ersten Buchstaben schrieben.“ Es ist Donnerstagabend, kurz nach 20 Uhr, und in der Mensa der Technischen Universtität Berlin (TU) läuft die „Lange Nacht der aufgeschobenen Hausarbeiten“. Over ist Psychologe, sein Workshop zur therapeutischen Schreibwerkstatt hat gerade begonnen. Um ihn sitzen 15 Studierende mit geschlossenen Augen und atmen.

Sie sollen sich durch diese Selbsterfahrung den Gründen für ihre Schreibblockaden nähern. Die meisten in dieser Runde sind chronische Vermeidungsstrategen; sie neigen dazu, die Abgabe einer Haus- oder Abschlussarbeit immer wieder aufzuschieben. Wer sich frühe Schreiberlebnisse bewusst macht, versteht laut Over besser, wieso ihm akademisches Schreiben schwerfällt.

Bundesweit finden an diesem Abend Schreibwerkstätten statt, Studierende können Liegengebliebenes angehen und sich Tipps von Schreibexperten holen. Sie lernen, kleine Ziele zu setzen, um nicht an zu hohen Ansprüchen zu scheitern. Sie erfahren, wie eine realistische Zeitplanung aussieht und sich Unlustgefühle vermeiden lassen – meist sind es ganz praktische Dinge. Das Studentenwerk Berlin, das in die TU-Mensa eingeladen hat, setzt noch einen zweiten Schwerpunkt. Seit Januar betreibt es ein Schreibzentrum für alle Berliner Studierenden, in dem sich Schreibgehemmte psychologisch beraten lassen können. „Jeder hat seine eigene Art zu schreiben“, sagt Constanze Keiderling, die das Zentrum leitet. Wichtig sei, herauszufinden, was man dafür braucht.

Für viele ist das zum Beispiel ein fester Termin. Die Schreibgruppen, die Keiderling betreut, treffen sich einmal pro Woche für zwei bis drei Stunden. „So haben sie eine Anlaufstelle und keiner sitzt einsam am Schreibtisch“, sagt Keiderling. Lange sei man davon ausgegangen, dass jemand, der Abitur gemacht habe, automatisch wissenschaftlich schreiben könne. „An der Hochschule wird vor allem Wissen vermittelt und selten die Technik, dieses Wissen klar aufzuschreiben.“ Selbst Texte von Professoren seien oft haarsträubend unverständlich. Erst seit zehn Jahren gibt es in Deutschland eine Schreibzentrums-Szene, die Studierenden hilft, ihre Angst vor der hochgestochenen akademischen Sprache abzubauen. Sie lernen, wie man Texte klar organisiert.

Schreibberatung sei „gewünscht, gebraucht und hilfreich“, sagt Keiderling. Das zeigt auch die Lange Nacht in der Mensa. 95 Studierende haben sich angemeldet. In der Cafeteria sitzen sie konzentriert an winzigen Tischen, auf denen nur Laptop und Kaffee Platz haben. Ihre Bücher balancieren sie auf den Knien, während sie eifrig tippen.

Im Workshop von Michael Over schreiben die Teilnehmer derweil ihre Kindheitserinnerungen auf, um sie anschließend mit den Gefühlen zu vergleichen, die sie vom Hausarbeitenschreiben abhalten. Für das Aufschieben von Deadlines gibt es unterschiedliche psychische Gründe. Manche liegen in der Vergangenheit, andere in der Zukunft, sagt Over. Im Studium löst man sich von den Eltern, alte Beziehungskonflikte können auftauchen und das Schreiben blockieren. Andere Studierende beenden ihre Abschlussarbeiten nur ungern, weil sie nicht wissen, was kommt, wenn sie die behütete Alma Mater verlassen. Am häufigsten hat Over mit Geisteswissenschaftlern zu tun, die angesichts der großen Werke, mit denen sie sich beschäftigen, gehemmt sind, selbst etwas vorzuzeigen. „Sie glauben, das gleiche hohe Niveau bringen zu müssen.“

Was sie aus der Übung mitnähmen, fragt Over die Gruppe. Eine Studentin erzählt, wie sie als Kind mit dem Schönschreiben kämpfte. „Ich wusste, wie ein N aussehen sollte, habe es aber trotzdem falschrum geschrieben“, sagt sie. Bei ihrer Hausarbeit gehe ihr es genauso: „Ich weiß, wo ich hinwill, aber ich finde einfach keinen Zugang.“

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