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Zarzuela-Sängerin Carmen Celada

© Juergen Morgenroth Fotografie

Wer darf Literatur?: Literatur weit aufgefächert

Die Freie Universität Berlin eröffnete den literaturwissenschaftlichen Exzellenzcluster „Temporal Communities – Doing Literature in a Global Perspective“.

Es war – passend zum Namen des Clusters – eine temporäre Gemeinschaft, die sich zu seiner feierlichen Eröffnung in den Räumen der Staatsbibliothek und des Ibero-Amerikanischen Instituts eingefunden hatte; beide Einrichtungen gehören zum umfangreichen außeruniversitären Partnernetzwerk des Clusters. Sein Ansatz: bislang durch die traditionellen Grenzen von Kulturräumen und Epochen willkürlich Getrenntes zusammen- und weiterzudenken sowie in verschiedenen Medien voneinander Entkoppeltes zu verbinden.

Auf diese Weise, so die Cluster-Sprecherin Romanistikprofessorin Anita Traninger, lasse sich der Kraft der Literatur nachgehen, Gemeinschaften über lange Zeiträume hinweg zu stiften. Der spanische Dichter Miguel de Cervantes (1547-1616) sei, wie sie erläuterte, ein gutes Beispiel dafür, dass Literatur als Praxis allerdings durchaus von historisch wandelbaren Ein- und Ausschlussprozessen gekennzeichnet sei: Denn zu seinen Lebzeiten sei Cervantes keineswegs der Cervantes gewesen, der als Schöpfer des „Don Quijote“ heute neben Goethe und Shakespeare als Fixstern der europäischen Literatur verehrt wird.

Er lebte vielmehr in prekären Verhältnissen und war ein unter abenteuerlichen Umständen Umherirrender: ein Schriftsteller, der sich seinen Platz im Literatursystem zu erobern suchte und an dessen „Torhütermechanismen“ – damit sind die jeweils zu einer Zeit geltenden (ungeschriebenen) Regeln gemeint, die den Zugang zu diesem System steuern – immer wieder bitter scheiterte.

Um ebensolche Ein- und Ausschlusskriterien im aktuellen Literaturbetrieb ging es in der sich anschließenden Podiumsdiskussion mit dem grammatisch „schrägen“ Titel „Wer darf Literatur?“ (Jutta Müller-Tamm). Die Literaturwissenschaftsprofessorin der Freien Universität moderierte die Runde mit Eva Geulen, Direktorin des Leibniz-Zentrums für Literatur- und Kulturforschung, der Autorin Lütfiye Güzel, der Lyrikerin und Doktorandin an der Friedrich-Schlegel-Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien Lea Schneider, dem ZEIT-Literaturkritiker Ijoma Mangold und Stephan Porombka, Professor für Texttheorie und Textgestaltung an der Universität der Künste Berlin.

Debattiert wurde darüber, wer im Literaturbetrieb „mitspielen“ darf, wer dazu gehört, wessen Bücher besprochen werden, wer ausgezeichnet wird. Um die Funktion von Ausschlusskriterien und deren Bewertung ging es und damit auch um die Frage: Wer gehört nicht dazu – und warum?

Nicht ohne Shakespeare

Nicht über Shakespeare zu reden, hatte sich Cluster-Sprecher Andrew James Johnston für den Eröffnungsabend vorgenommen – denn für einen Anglisten sei es schließlich allzu naheliegend, den englischen Dramatiker als Gewährsmann für einen literaturwissenschaftlichen Cluster heranzuziehen. Zur Freude des Publikums nahm Johnston von seinem Plan Abstand – musste von ihm Abstand nehmen, schon weil der Abend mit dem 25. Oktober auf ein klassisches Shakespeare’sches Datum fiel: den St. Crispin’s Day, an dem der Dramatiker König Heinrich V. eine der berühmtesten Reden der englischen Literaturgeschichte halten ließ.

Außerdem habe der Schriftsteller und Theatermann, so Johnston fein ironisch, den Cluster „Temporal Communities“ schon vor rund 600 Jahren inhaltlich entworfen: In schönsten „Antragsversen“ – hier spielte Johnston auf die gerne als Antragsprosa bezeichneten Formulierungen in wissenschaftlichen Förderanträgen an – habe Shakespeare das Publikum als aktiv Erinnernde angesprochen – und damit die Fährte gelegt für eine sich immer wandelnde Auffassung von Texten zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Künsten.

Alle Veranstaltungen und Vorführungen wurden simultan in Gebärdensprache übersetzt, das Bild zeigt das visuelle beifallspendende Publikum nach der Vorführung der Gebärdensprachpoesie

© Jürgen Morgenroth Fotographie

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Kooperationspartner, Medien- und Kulturschaffende, Künstlerinnen und Künstler begleiteten das GO! des Forschungsverbunds, das Grand Opening. Universitätspräsident Professor Günter M. Ziegler gratulierte den beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zum Erfolg im Exzellenzwettbewerb. Den Cluster bezeichnete er als „Leuchtturm für die Geisteswissenschaften der Freien Universität". Er freue sich darüber, dass so eine neue, sehr lebendige und vielfältig vernetzte „Temporal Community“ in Berlin entstehe, die nicht nur die Freie Universität, sondern darüber hinaus die ganze Stadt bereichere.

Wie ein Festival aufgebaut war das dreitägige Programm zur Cluster-Eröffnung; es zeigte, wie weit der Literaturbegriff von den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gefasst wird: Wer sich auf den Weg ins Haus der Kulturen der Welt, in die Staatsbibliothek am Potsdamer Platz oder die Schaubühne machte, konnte dort nicht nur Literatur mit allen Sinnen erfahren, sondern auch wie bei einem Experiment live erleben, was geschieht, wenn poetische Sprache das Medium wechselt oder jenseits ihrer Entstehungszeit aufgegriffen wird.

„Die Debatten wurden wichtiger als die Proben selbst“

So wurden Akten und Archivalien zum Leben erweckt. Als etwa die Sängerin Carmen Celada mit Fächer und Kastagnetten Lieder sang, deren Texte und Noten zur Sammlung des Ibero-Amerikanischen Instituts zur Zarzuela gehören. Die mehr als 1600 spanischen und hispanoamerikanischen Libretti dokumentieren, wie die Zarzuela, eine Form des Musiktheaters, im 19. Jahrhundert zu einem globalen Phänomen wurde. Oder als der Dramaturg und Autor Thomas Martin vom Probenprozess zum Theaterstück „Hamlet/Maschine“ mit Heiner Müller berichtete – einem historischen Moment, weil die Arbeit an der literarischen Vorlage von den Auswirkungen des Mauerfalls im Herbst und Winter 1989/90 überlagert wurde: „Die Debatten wurden wichtiger als die Proben selbst“, erinnerte sich der Theatermann und erläuterte die Probendokumentation.

Der Vorabend, mit Interventionen zur Ausstellung "Liebe und Ethnologie" im Haus der Kulturen der Welt, stand unter dem Titel "Die Verwörterung der Welt".

© Jürgen Morgenroth Fotographie

In die Akte, die dem Publikum gezeigt wurde, hatten die Dramaturgen Zeitungsausschnitte geklebt. Dadurch verwoben sich die journalistischen Texte mit den Notizen zum Probenfortschritt. Die Dokumentationsakte zu „Hamlet/Maschine“ liegt im Archiv der Akademie der Künste, die wie das Ibero-Amerikanische Institut und das Haus der Kulturen der Welt zum Partnernetzwerk des Clusters zählt.

Dass neue Erfahrungen und Perspektiven den Blick auf literarisches Schaffen verändern, zeigten Interventionen und Lesungen in einer Ausstellung zum Werk des Schriftstellers Hubert Fichte im Haus der Kulturen der Welt. Cluster-Mitglieder hatten ihre kritischen Auseinandersetzungen anhand von ausgewählten Objekten gestaltet, aus ihren aktuellen Texten lasen die Autorin Yvonne Adhiambo Owuor und die Übersetzerin Zoë Beck.

Drei Tage lang konnte poetische Sprache gelesen, gehört und gesehen werden – und sogar erspürt: In der buchstäblich berührenden und eigens für die Cluster-Eröffnung entwickelten Performance des Soundpoeten Tomomi Adachi und der Tänzerin und Choreografin Natsuko Tezuka. Sie zeigten, dass Sprache eine körperliche Erfahrung ist, die nicht nur Performer und Performerin raumgreifend verband, sondern auch auf den Computer übertragen werden konnte, der die Signale des Körpers in Laute übersetzte.

Um geheimnisvolle Verbindungen zwischen geschriebenen Wörtern und ihrem Klang ging es in einer Lesung von Eugene Ostashevsky. Der russisch-amerikanische Lyriker ist derzeit Dorothea Schlegel Artist in Residence am Exzellenz-Cluster. Ostashevky trug Gedichte aus seinem Zyklus „The Feeling Sonnets“ vor, das Publikum konnte mitlesen und dem Autor dabei folgen, wie er sich etwa in einem Text fragte, warum man manchmal „Lied“ lese, wenn da doch „Leid“ stehe. Auf dem signierten Druck eines Gedichts ließen sich mit den Fingerspitzen die Lettern als ertastbare Sprache erfühlen.

Die Zeichenhaftigkeit von Sprache demonstrierte auch eine Gedichtperformance. Sie basierte auf dem Projekt „handverlesen“, einem Dialog zwischen tauben und hörenden Künstlerinnen und Künstlern. So wurde nicht nur ein Gedicht von Lea Schneider, die auch bei der Podiumsdiskussion zu Gast war, in Gebärden vorgetragen, sondern auch das typografische Gedicht „Regen“ von Ruth Wolf-Rehfeldt, das nur aus mit der Schreibmaschine geschriebenen Buchstaben „r“ besteht. Umgekehrt wurde in Gebärdensprache verfasste Poesie in gesprochene Sprache übersetzt.

„Wer darf Literatur?“ fragt das Podium: Lütfiye Güzel, Stephan Porombka, Lea Schneider, Eva Geulen, Ijoma Mangold und Jutta Müller-Tamm. (v.l.n.r.)

© Jürgen Morgenroth Fotographie

Der Wechsel der Zeichensysteme durchzog das Grand Opening: Die konsequente Simultan-Übersetzung der gesamten hörbaren künstlerischen oder diskursiven Programmpunkte eröffnete selbst denen, die Gebärdensprache nicht verstehen, eine zusätzliche Dimension. Derartige Begegnungen zwischen Kunst und Wissenschaft sollen – so wollen es die Cluster-Beteiligten – nicht nur punktuell und anlässlich von Veranstaltungen stattfinden. Sie sollen Teil des Forschungsalltags werden.

Das Grand Opening endete am dritten Abend mit einem Besuch in der Berliner Schaubühne. Dort diskutierten nach der Aufführung von Virginia Woolfs „Orlando“ Doris Kolesch und Matthias Warstat vom Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität mit der Dramaturgin und Schauspielerinnen und Schauspielern.

Woolfs Roman aus dem Jahr 1929 wurde in der Inszenierung von Katie Mitchell nicht nur auf die Theaterbühne gebracht, sondern war auch als Live-Film zu sehen, auf eine Leinwand über der Bühne projiziert. Ein Beispiel für Literatur, die Zeiten und Räume durchquert und dabei ebenso leicht und mühelos die Medien wechselt wie die Hauptfigur Orlando das Geschlecht.

Christine Boldt, Nina Diezemann

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