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Migration wird weiblich. Auf dem globalisierten Arbeitsmarkt für Dienstleistungen sind vor allem Frauen gefragt. Im Bild Arbeiterinnen aus Myanmar in einer thailändischen Shrimp-Fabrik.

© AFP

Migration: "Identitäten sind veränderbar"

Die Soziologin Karen Körber spricht im Tagesspiegel-Interview über die neue Migration auf dem globalisierten Arbeitsmarkt. Sie erklärt, warum sich Familien nicht komplett in ihr neues Land einfügen müssen - und wie Migration in den letzten Jahren feminisiert wurde.

Frau Körber, Thilo Sarrazin hat eine aufgeregte Debatte über Integration entfacht. Welches Bild macht sich die Forschung von Integration?

Wir haben Migration lange als etwas Lineares betrachtet, also als einen Prozess mit klarem Anfang und Ende. Doch im Zuge der Globalisierung und auch des unglaublichen Zuwachses an Mobilität, haben sich die Migrationsmuster komplett verändert, sie sind flüssiger, flexibler geworden. Es gibt natürlich immer noch die klassische Ein- und Auswanderung, aber daneben, gerade mit der Grenzöffnung nach Osteuropa, auch zunehmende Pendelmigration und kurzfristigere Arbeitsmigration. Wenn zum Beispiel osteuropäische Pflegekräfte in wöchentlichen oder monatlichen Rhythmen die Grenzen überschreiten, dient die Migration nicht dazu, in einem anderen Land ein neues Leben aufzubauen.

Welche Konsequenzen hat das für unsere Vorstellung von Integration und Identität?

Angesichts zunehmender grenzüberschreitender Mobilität sollten Begriffe wie Identität, Integration oder Identifikation mit dem Aufnahmeland ein Stück weit nüchterner werden. Es ist ein grundsätzliches Missverständnis, wenn man unter Integration versteht, dass Einzelne oder Familien sich komplett in ein anderes Land einfügen. Das wäre eine völlige Überforderung. Ebenso wenig stimmt es, dass wir alle unsere jeweiligen nationalen oder religiösen Identitäten als fest verschnürtes Ränzlein auf dem Rücken tragen. Gerade die neuen Migrationsbewegungen machen deutlich, wie veränderbar und durchlässig Identitäten sind.

Der klassische Gastarbeiter war ein männlicher Industriearbeiter. Heute sind Hunderttausende legal und illegal beschäftigter Pflege- und Hausarbeitskräfte in Westeuropa und auch den USA beschäftigt. Wird Migration weiblich?

Für die vergangenen 20 Jahre können wir tatsächlich eine Feminisierung von Migration feststellen. Das Bild vom männlichen Brotverdiener ist zwar immer noch öffentlich dominant, entspricht aber schon lange nicht mehr den Realitäten. Allerdings ist weibliche Migration nicht wirklich neu. Schon vor 100 Jahren gab es Frauen, die als Arbeitskräfte auf Bauernhöfe oder in bürgerliche Haushalte gegangen sind, aber auch als Dienstmägde oder Prostituierte in die Kolonien geschickt wurden. In den letzten Jahren ist jedoch im euro-amerikanischen Raum die Nachfrage nach Arbeitskräften im Dienstleistungssektor extrem gestiegen und daraus ist mittlerweile ein Arbeitsmarkt für Frauen geworden, der weltweit hochgradig organisiert ist. Sowohl die Ziel- wie die Herkunftsländer verfügen über Agenturen und kollektive Netzwerke, mit deren Hilfe Migrantinnen global vermittelt werden.

Sie beschäftigen sich mit „transnationalen Familien“, also damit, wie Familien über die Grenzen hinweg funktionieren, wenn Angehörige zum Arbeiten ins Ausland gehen. Wie leben diese Menschen?

Ein typisches Beispiel aus unserem Sample ist eine koreanische Frau, die in den 60er Jahren in Deutschland als Krankenschwester angeworben wurde. Sie hat ihre Kinder, die damals sechs und acht Jahre alt waren, und ihren Ehemann zurückgelassen. Nach einigen Jahren begann die Ehe zu kriseln, es folgte die Scheidung. Aber die Mutter sorgte weiter finanziell für die Kinder und bot ihnen auch an, nach Deutschland zu kommen. Dieser Fall zeigt, wie über sehr lange Zeiträume und Distanzen hinweg die familiären Beziehungen mit Sachleistungen und Geldtransfers aufrecht erhalten werden, obwohl eigentlich kein „Familienleben“ im herkömmlichen Sinn mehr besteht.

Wie beschreiben die Familienangehörigen die Trennung?

Bei den inzwischen erwachsenen Kindern finden wir oft beides, ein Verständnis für die Handlungsweise der Eltern, aber auch eine Schuldzuweisung, dass sie zurückgelassen wurden in der Heimat, wo sie in der Regel bei den Großeltern oder bei Tanten und Onkeln aufwuchsen. Was in unseren Interviews auffällt, ist, dass Vorwürfe am deutlichsten von den Töchtern kommen, die mittlerweile selber Mütter geworden sind und einen Vergleich ziehen. Die sagen dann oft: „Ich könnte das nie tun, was meine Mutter getan hat.“

Das heißt, der Vorwurf gilt immer der Mutter, nicht dem Vater?

Ja, das deckt sich auch mit Ergebnissen anderer Untersuchungen, da wird ein klarer Unterschied gemacht. Die Vorstellung von Familie ist über die Mutter codiert. Und man muss auch sehr klar sagen, dass Väter, die mit ihren Kindern allein zurückbleiben, sehr oft versagen. Meist übernehmen weibliche Verwandte die emotionale Versorgung.

Kann man sagen, dass Migration Familien kaputt macht?

Zum Teil ja, sicherlich. Es wäre naiv zu behaupten, dass es Familien nicht vor unglaubliche Herausforderungen stellt, zum Beispiel, wenn Kinder im Alter von 15 nachgeholt werden und die Eltern dann mit halbwüchsigen Menschen konfrontiert sind, mit denen sie noch nie zusammengelebt haben. Andererseits gibt es auch das Muster, dass Migration Familien stabilisiert, weil über die schwierige Situation auch eine Belastbarkeit hergestellt wird.

Ist es ein Wohlstandsphänomen, Familie und Nähe zu haben?

Nun ja, wir leisten uns diese Nähe auch nicht mehr ganz in dem Maße, wie es früher der Fall war. Die Forderung, für den Arbeitsplatz mobil zu sein, hat extrem zugenommen und richtet sich mittlerweile an beide Elternteile. Und in die Versorgungslücke, die entsteht, weil beide Elternteile arbeiten, stoßen dann die Kinderfrauen aus Ost- und Südosteuropa, die auch einen Teil der emotionalen Nähe mit spenden sollen, die die Eltern nicht geben können.

Ist das schlimm?

Das kommt auf die Perspektive an. Aus Sicht der Kinder ist es an vielen Stellen wohl nicht nur schlimm. Die Annahme, dass einen allein die eigene Mutti am besten versorgen kann, stimmt ja nicht immer. Problematisch ist aber, dass es oft gut qualifizierte Frauen sind, die ihre eigenen Kinder zurücklassen, um für andere Kinder zu sorgen. Das heißt, sie bleiben selbst weit unterhalb ihrer beruflichen Möglichkeiten und können ihre Qualifikationen nicht dort einbringen, wo sie ihre Familien haben.

In Ländern wie Moldawien wird schon von „Eurowaisen“ gesprochen, weil mittlerweile der größte Teil der arbeitsfähigen Erwachsenen im Ausland ist und ganze Schulklassen ohne ihre Eltern aufwachsen. Beißen in dieser Art der fortgesetzten Migration von Ost nach West den Letzten die Hunde?

Dieser sogenannte „care-drain“ und „brain-drain“ ist eine hoch problematische Entwicklung, die sich nicht mehr aufhalten lässt. Allerdings ist es nicht so, als würde nichts in diese Länder zurückfließen: Es gibt einen Transfer von Geld, Waren und Sachleistungen. Viele dieser Gesellschaften könnten ohne die familiären Transferleistungen überhaupt nicht existieren und diese Zahlungen könnten niemals durch Entwicklungshilfe geleistet werden.

Können wir etwas von transnationalen Familien lernen?

Wir lernen, dass über Krise und Scheitern hinweg trotzdem so etwas wie ein langfristiger stabiler Zusammenhalt aufrecht erhalten werden kann, vielleicht gerade dann, wenn man die Vorstellung von Familie nicht ganz so emotional auflädt. Wir neigen dazu, angesichts hoher Scheidungsraten vom Scheitern zu sprechen und sehen Familie als etwas, das auseinanderbricht und den zentrifugalen Kräften der modernen Gesellschaft nicht standhalten kann. Langfristig betrachtet entdeckt man aber eine erstaunliche Stabilität und Dehnbarkeit dieses Gebildes „Familie“. Auch die moderne Patchworkfamilie oder die Trennungsfamilie hört ja nicht auf, Familie zu sein, nur weil die Partner sich getrennt haben.

Das Gespräch führte Andrea Roedig.

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