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© dpa

Natur und Kultur: Was den Menschen macht

Wie hat uns die Evolution geprägt? Deren Muster sind in den Teppich der Zivilisation eingewebt - auch wenn es nicht immer leicht fällt, sie zu erkennen.

Ausgerechnet Tauben. Der Verleger John Murray hatte Charles Darwins Manuskript „Über den Ursprung der Arten" begutachten lassen. Und war zu dem Schluss gekommen, dass ein populäres Buch über diese Vögel viel besser ankommen würde als Darwins Rundumschlag. Einen Schmöker über den Ursprung der Tauben sollte der Naturforscher schreiben. Alle züchteten sie Tauben im viktorianischen England, selbst die Königin.

Aber Darwin lehnte den Vorschlag ab, vermutlich verärgert. Er beharrte auf dem Ursprung der Arten, nicht der Tauben. Seit vielen Jahren hatte er über dieses Thema geforscht, ein großes Werk geplant. Und so konnte „Origin of Species“ 1859 erscheinen. Der zentrale Gedanke des Naturforschers: Die Vielfalt der Arten verdankt sich der natürlichen Auslese. Tiere und Pflanzen sind nicht ein für allemal geschaffen, sondern haben sich allmählich entwickelt. Die Natur wird von der Evolution regiert.

„Licht wird fallen auf den Ursprung des Menschen und seine Geschichte“

Darwins revolutionäre Idee öffnete viele neue Türen der Erkenntnis. Aber etliches konnte er noch nicht wissen, allenfalls erahnen. Vor allem war ihm unklar, auf welchen Prozessen die Vererbung beruht. Gene, gewissermaßen der Nährboden der Evolution, waren vor 150 Jahren unbekannt. Doch alle wesentlichen Erkenntnisse späterer Forschergenerationen fügten sich fast nahtlos zu Darwins Gedanken hinzu, ergänzten und komplettierten sein Werk.

„Licht wird fallen auf den Ursprung des Menschen und seine Geschichte“, schrieb Darwin im „Ursprung der Arten“. Es ging ihm um mehr als Tauben, und er sollte mehr als Recht behalten.

Es gibt sie, die menschliche Natur

Wie hat uns die Evolution geprägt? Eigentlich hat sich der moderne Mensch daran gewöhnt, sich die Natur vom Leibe zu halten. Vor ihren Einflüssen geschützt, in klimatisierten Büros, wohlgenährt und mit Fernbedienung ausgestattet, betrachtet der Zeitgenosse das Naturschauspiel aus einiger Entfernung. Die Distanz wird umso größer, je mehr er die Natur verklärt und verkitscht. Dabei hat der Gegenwartsmensch aus den Augen verloren, dass er selbst ein Produkt der Evolution ist. Es gibt sie, die menschliche Natur.

„Nichts in der Biologie ergibt Sinn, außer im Licht der Evolution“, schrieb der Biologe Theodosius Dobzhansky. Man könnte diesen Satz abwandeln: „Nichts in der Kultur ergibt Sinn, außer im Licht der Evolution.“ Natürlich ist das eine Übertreibung. Aber sie enthält mehr als ein Körnchen Wahrheit. Die Muster der Evolution sind in den Teppich der Zivilisation eingewebt, auch wenn es nicht immer leicht fällt, sie zu erkennen.

Die Natur macht keine Sprünge

Das Leben auf der Erde ist vor etwa 3,5 Milliarden Jahren entstanden. Es hat sich in diesem unvorstellbar großen Zeitraum bis in die Gegenwart ständig weiter entwickelt. Umgekehrt heißt das, dass jeder heute lebende Mensch seine Vorfahren bis zu den primitivsten Urtierchen zurückverfolgen könnte, zumindest theoretisch. Auf dieser Reise zu den Ursprüngen stellt man fest, dass die Entfernung, die man zu den Anfängen der ersten menschlichen Hochkulturen vor einigen tausend Jahren zurücklegt, kaum mehr als ein Millionstel der Gesamtstrecke beträgt. Das entspricht ein bis zwei Millimetern von einem Kilometer. Gemessen an der Geschichte des Lebens wurden die Pyramiden sozusagen vorgestern erbaut.

Und noch etwas würde bei dieser Expedition auffallen. Die Tatsache, dass es keine Brüche in der Entwicklung gibt, nur allmähliche Übergänge. Die Natur macht keine Sprünge. Vieles, was den Menschen ganz besonders auszeichnet, ist bei näherem Hinsehen gar nicht so einzigartig. Sprache, Moral, Tradition, all diese Dinge sind zumindest in Ansätzen schon bei einigen Tieren vorhanden und vermutlich in den Genen angelegt. Der Mensch ist kein unbeschriebenes Blatt, wenn er auf die Welt kommt. Er ist kein Stückchen Ton, das man so zurechtkneten kann, wie es einem passt. Der Charakter sei „geprägte Form, die lebend sich entwickelt“, schrieb Goethe. Überträgt man die „geprägte Form“ in die Welt der Biologie, dann hat man es mit dem Genom zu tun, das den Menschen formt. Die spannende Frage ist, wie sehr die Gene uns prägen. Sind sie, mit Goethe, das „Gesetz“, nach dem wir „angetreten“ sind, oder können wir ihnen „entfliehen“?

„Mammutjäger in der Metro“

Manche Evolutionsforscher glauben, dass Menschen „Mammutjäger in der Metro“ sind, wie das Buch des Wissenschaftspublizisten William Allman lautet. Hinter der Fassade des Angestellten in Schlips und Kragen, der morgens in der U-Bahn sein Notebook aufklappt, lauert ein haariger Urmensch, der seine Triebe nur schwer im Zaum halten kann. Nach dieser Theorie wiegt das in den Genen festgeschriebene evolutionäre Erbe der Steinzeit so schwer, dass die Zivilisation nur Kulisse ist.

Andere Wissenschaftler sind weniger fatalistisch. Ihrer Ansicht nach ist die Evolution keine Einbahnstraße, die von der Biologie in Richtung Kultur führt. Vor ein bis zwei Millionen Jahren muss der Mensch gelernt haben, über die Horde hinauszudenken, sagen sie. Er muss gelernt haben, in größeren Gemeinschaften zu kooperieren und voneinander zu lernen. So wurde das Fundament der kulturellen Evolution gelegt. Diese wiederum fachte den Wettbewerb zwischen Gruppen an. Je sozialer diese waren, je besser also ihr innerer Zusammenhalt war, umso höher standen ihre Überlebenschancen. Die Moral könnte aus dem Geist der Gemeinschaft entstanden sein.

Mit dem Entziffern des menschlichen Erbguts hat die Genetik der Diskussion um die evolutionären Wurzeln des Menschen eine weitere Dimension hinzugefügt. Es ist möglich, im Genom nach jenen Anlagen zu suchen, die „typisch Mensch“ sind. Nach allem, was bislang bekannt ist, existiert „das“ Menschen-Gen, das Homo sapiens von seinen nächsten Verwandten im Tierreich trennt, nicht. Stattdessen sind es viele große und kleine genetische Unterschiede, die dem Menschen trotz aller familiären Nähe zu anderen Primaten seine Eigenart verleihen.

Die Zivilisation hat selbst dem Brillenträger das Überleben ermöglicht

Aber selbst hier kommt wieder die Kultur ins Spiel. Nicht als Gegenspieler der Natur, sondern als Erweiterung. Die menschliche Fähigkeit, zu lernen und sich anzupassen, hat zugleich den Druck der natürlichen Auslese verringert. Die Zivilisation schützt auch vermeintlich Schwache. Sie hat selbst dem Brillenträger das Überleben ermöglicht. So ist es paradoxer Weise die Kultur, die die genetische Vielfalt des Menschen vergrößert.

Dass der Mensch eines Tages die ganze Erde besiedeln würde, die Ozeane überqueren und in das Weltall aufbrechen würde – all das war kein genetischer Masterplan, sondern das kollektive Werk lernfähiger Lebewesen. Es spricht für die „Weisheit“ der Natur, dass sie den Menschen nicht bis in den letzten Winkel seines Wesens durchgeplant, sondern ihn mit der Fähigkeit zu lernen ausgestattet hat. Die Gene werden oft nur als Quelle von Defekten und Krankheiten gesehen, als schicksalhaft im schlechten Sinn. Aber hier zeigen sie sich von ihrer besten Seite. Wir verdanken ihnen, dass wir lernen können, ein Gedächtnis entwickeln. Das gibt uns Freiheit, macht den Menschen zu einem Möglichkeitswesen.

Die Menschennatur ist ein Mischpult

Im menschlichen Geist treffen Biologie und Kultur, Begabung und Bildung zusammen. Es ist eine durchaus musikalische Harmonie. Der Wissenschaftsautor Dan Jones bezeichnet in der Zeitschrift „Nature“ die menschliche Natur als ein Mischpult. Das Mischpult besitzt viele Schalter und Regler, an denen sich die Kultur austoben, unterschiedliche Töne und Melodien hervorlocken kann.

Vieles ist möglich, aber nicht alles. Die Ausstattung des Mischpults gibt die Grenzen vor. Aus einem Menschen ohne Taktgefühl wird beim besten Willen kein Mozart, aus einer mathematischen Durchschnittsbegabung kein Professor für theoretische Physik.

Ein Beispiel für das Zusammenspiel ist die Sprache. Der Mensch hat nicht nur die zum Sprechen notwendige Anatomie, sprich die „Hardware“, sondern auch die nötige „Software“ im Gehirn. Die Fähigkeit zu sprechen ist ihm in die Wiege gelegt. Aber welche Sprache er lernt, ob Englisch, Deutsch oder Japanisch, das hängt von der Kultur ab, in der er aufwächst. Gleich neben der Fakultät für Sprache liegt die für Mathematik. Auch ein Sinn für Zahlen und Geometrie ist offenbar angeboren. Nicht zu vergessen die Moral, ja sogar der Hang zum Religiösen. Selbst sie sind womöglich universell, in jedem angelegt.

Ist es möglich, dass sich Ideen einen Wettkampf um Speicherplatz liefern?

Es ist ein faszinierendes Gedankenexperiment, die Erfolgsrezepte der Evolution auf die Kultur zu übertragen. Selbst in den Hervorbringungen der Zivilisation könnte es so etwas wie Auslese geben. Ist es möglich, dass sich verschiedene Ideen einen Wettkampf um Speicherplatz in unserem Gehirn liefern? Dieser Gedanke stammt von dem Biologen und Buchautor Richard Dawkins. Für ihn ist Evolution fast ein kosmisches Prinzip, nicht an schnöde Biochemie und Gene gebunden. Die „Gene der Kultur“ nennt er Meme. Ob Dawkins’ These selbst mehr ist als ein interessantes „Mem“, muss sich noch herausstellen.

„Licht wird fallen auf den Ursprung des Menschen“: 150 Jahre nach dem Erscheinen von Darwins Hauptwerk ist diese Prophezeiung zu einem Gutteil in Erfüllung gegangen. Aber die „Evolution in Natur, Technik und Kultur“, wie das Jahresthema der Berlin-Brandenburgischen Akademie für 2009 und 2010 lautet, hat so viele Facetten, dass sie noch mindestens 150 weitere Jahre für anregende Diskussionen sorgen wird.

- Der Autor leitet das Wissenschaftsressort des Tagesspiegels.

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