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Nur zehn bis 20 Prozent der Bürger haben eine Patientenverfügung unterzeichnet.

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Patientenverfügung: Wer entscheidet an meiner Stelle?

Wenn Kranke sich nicht mehr äußern können, müssen andere für sie entscheiden. Am besten kann das ein Familienrat der nächsten Angehörigen, die sich die Verantwortung teilen. Für diese "geteilte stellvertretende Entscheidungsfindung" sollte man mehrere Bevollmächtigte benennen.

Sollte der Bruder, der nach einem Unfall seit mehreren Jahren im „Wachkoma“ liegt, wegen einer Lungenentzündung mit einem Antibiotikum behandelt werden? Ist es sinnvoll, der schwer dementen Tante, die keine Nahrung mehr zu sich nimmt, eine Magensonde für die künstliche Ernährung zu legen? Wäre es der Wunsch der 85-jährigen Mutter, die nach einer Blutvergiftung beatmet auf der Intensivstation liegt, an ein Gerät zur Blutwäsche angeschlossen zu werden? Entscheidungen, die in der modernen Medizin Tag für Tag gefällt werden müssen, von den Hauptpersonen aber nicht getroffen werden können.

Schätzungen zufolge hat nur eine Minderheit von zehn bis 20 Prozent der Bürger für diesen Fall eine Patientenverfügung unterzeichnet. Und selbst wenn sie vorliegt, passt sie oft nicht auf die konkrete Situation. Vor allem viele Ältere haben aber eine Vollmacht für den Fall ausgestellt, dass sie nicht mehr selbst entscheiden können, meist zugunsten des Partners oder erwachsener Kinder.

Das ist auch gut so, wie die Studie zeigt, die Renato Frey und seine Arbeitsgruppe vom Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Zusammenarbeit mit Kollegen der Universität Basel online im Journal „Medical Decision Making“ veröffentlicht haben. Denn sowohl eine Gruppe von 618 online befragten, meist jüngeren Erwachsenen, als auch 50 separat interviewte Senioren waren sich einig. Sollten sie entscheidungsunfähig werden, dann hätten sie am liebsten einen von ihnen selbst Bevollmächtigten als Stellvertreter. Haben sie den nicht in guten Tagen bestimmt, dann würden sie die Entscheidung allerdings nicht so gern den Ärzten oder einem Gericht überlassen. Am sichersten würden sie sich fühlen, wenn die nächsten Angehörigen sie gemeinsam treffen. Auch wenn sie sich in die Rolle eines Angehörigen versetzten, war ihnen am wohlsten bei der Vorstellung, die Bürde der Verantwortung zu teilen. Dabei wurde die echte gemeinsame Entscheidung nach ausführlicher Diskussion nochmals gegenüber einer einfachen Abstimmung bevorzugt.

Die Zuversicht, dass nahestehende Menschen zusammen die richtige Entscheidung fällen werden, ist begründet, wie Teil zwei der Studie belegt. Dafür konnten die Psychologen 64 Schweizer Mehrgenerationenfamilien gewinnen, bestehend aus insgesamt 253 Mitgliedern. Alle mussten sie sich mit 24 fiktiven, aber lebensnahen Szenarien auseinandersetzen, in denen die Entscheidung für oder gegen eine Behandlung bevorstand. Je ein Familienmitglied schlüpfte in die Rolle des entscheidungsunfähigen Patienten und wurde befragt, was er sich in dieser Situation für sich selbst wünschen würde. Alle anderen legten fest, wie sie in der Rolle des Bevollmächtigten entscheiden würden. Anschließend trafen sie sich zum Familienrat, um den mutmaßlichen Willen ihres erkrankten Mitglieds zu ermitteln. Was bei den meist sehr engagiert geführten Gesprächen herauskam, ist geeignet, Familienkonferenz-Skeptiker zu beruhigen: „Wir konnten nachweisen, dass auf diese Weise der tatsächliche Wille des getrennt befragten Familienmitglieds genauso gut getroffen wurde wie von einem eigens ernannten Bevollmächtigten.“

Frey plädiert dafür, die Methode der „geteilten stellvertretenden Entscheidungsfindung“ weiterzuverfolgen, auch weil sie die Angehörigen entlastet. Die Gruppen-Idee könnte seiner Ansicht nach auch bei der Bestellung gesetzlicher Betreuer Einzug halten. „Zudem sollte jeder angeregt werden, selbst einen oder besser noch mehrere Bevollmächtigte zu bestimmen.“ Solche Stellvertreter wollte die Mehrheit der Befragten schließlich im Ernstfall gern haben.

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