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Schule: Gymnasiasten ohne Wahl

Die Hoffnung der Schulpolitik, das Ende des Kurssystems gehe im Schnitt mit einer spürbaren Steigerung in den Kernkompetenzen einher, müssen die Forscher dämpfen. Die Abschaffung des Kurssystems hilft bei Mathe wenig, bei Englisch nichts.

Abitur dank Musik, Kunst und Sport? Die Sorge, „Dünnbrettbohrer“ könnten mit geringem Aufwand auf irrelevanten Gebieten die Hochschulreife erwerben, hat die im Jahr 1972 eingeführte reformierte gymnasiale Oberstufe von Beginn an begleitet. Die Reform, die größte Veränderung des Gymnasiums nach dem Zweiten Weltkrieg, brach mit einer langen Tradition.

Die Oberstufenschüler lernten fortan nicht mehr im Klassenverband und unterzogen sich am Ende den gleichen Prüfungen. Stattdessen belegten sie unterschiedliche Kurse. Zwar waren dabei auch Fächer aus einem Pflichtbereich zu absolvieren. Doch ein erheblicher Teil des Stundenplans war aus verschiedenen Feldern wählbar. Auf die zwei, in manchen Bundesländern auch drei Leistungskurse entfielen fünf bis sechs Wochenstunden, auf Grundkurse zwei bis drei Wochenstunden. Die Abiturnote setzte sich aus gewichteten Teilleistungen zusammen.

Während die Reform damals große Debatten auslöste, vollzieht sich die Abkehr von ihr in den vergangenen Jahren „nahezu geräuschlos“, stellt der Tübinger Bildungsforscher Ulrich Trautwein gemeinsam mit Kollegen seiner Universität und vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in einer neuen Studie fest. Vielleicht sähe die Öffentlichkeit im Ende der reformierten Oberstufe fälschlicherweise nur ein regionales Ereignis, weil es sich in den Ländern unterschiedlich vollziehe.

Die Länder hatten schon bald nach der Einführung der großen Reform begonnen, die Wahlfreiheiten zurückzuschneiden, besonders mit den Beschlüssen der Kultusminister von 1988 und 1997. Eine neue Dynamik für die Revision der Reform haben jedoch die Husumer Beschlüsse von 1999 ausgelöst. Sie erlauben den Ländern, die Wahlfreiheiten der Schüler noch weiter einzuschränken – entgegen dem Rat einer Expertenkommission. Diese hatte gewarnt, die Abkehr vom Kurssystem werde zu Einbußen der angehenden Studierenden bei „fachlicher Kompetenz und sozialer Handlungsfähigkeit“ führen. Das Kurs-Modell hingegen fördere „die Bildung und Erprobung eigener Interessen“ und den „Aufbau selbstständiger Lernkompetenz“.

Dennoch sind die meisten Länder inzwischen zu „kanonförmigen Oberstufenmodellen“ zurückgekehrt oder gerade dabei, stellen die Wissenschaftler fest. In 12 Ländern hätten Schulpolitiker die Unterscheidung zwischen Leistungs- und Grundkursen fast oder ganz abgeschafft. Weil die Zahl der Prüfungsfächer im Abitur von vier auf fünf angehoben wurde, wurde vielfach auch eine Naturwissenschaft zum Pflichtfach in der Prüfung gemacht.

Vorreiter war Baden-Württemberg. Dort wurden die Leistungskurse schon zum Schuljahr 2001/2002 abgeschafft: Deutsch, Mathematik und eine Fremdsprache müssen seitdem alle Schüler mit vier Wochenstunden belegen, weiterhin ein „Profilfach“ gemäß dem Profil des jeweiligen Gymnasiums sowie ein weiteres „Neigungsfach“ aus dem Pflichtbereich. „Solide Grundkompetenzen für alle sind wichtiger als Spezialisierungsmöglichkeiten für wenige“, erklärte die damalige Kultusministerin des Landes, Annette Schavan, zur Begründung.

Führen die einschneidenen Veränderungen tatsächlich zu der gewünschten Vereinheitlichung der Kompetenzen in den Kernbereichen?, haben die Forscher um Trautwein gefragt. Im Rahmen der Studie „Tosca“ haben sie 2001/2002 sowie 2005/2006 Leistungen von jeweils etwa 5000 baden-württembergischen Oberstufenschülern von 149 Schulen am Ende der 13. Stufe untersucht. Zwei Drittel der Schüler kamen aus allgemeinbildenden, ein Drittel aus beruflichen Gymnasien. Die Kohorte 2001/2002 machte Abitur noch im Kurssystem, die Kohorte 2005/2006 im kanonisierten System.

Die Hoffnung der Schulpolitik, das Ende des Kurssystems gehe im Schnitt mit einer spürbaren Steigerung in den Kernkompetenzen einher, müssen die Forscher dämpfen. In Mathematik, nach dem Wegfall der Leistungskurse einheitlich mit vier Stunden unterrichtet (im Schnitt nun mit zusätzlich 13 Minuten pro Woche), zeigt sich zwar „ein moderater, statistisch signifikanter Leistungsanstieg“. Das sei aber weniger als von der Politik erhofft, sagte Trautwein bei der Präsentation der Studie am Dienstag in Berlin.

Der „Nettogewinn“ betrage ein Zehntel des durchschnittlichen Leistungsunterschieds zwischen Teilnehmern von Grund- und Leistungskursen. Das sei zu wenig, damit etwa die Professoren an der Uni bei ihren Studienanfängern bessere Mathekenntnisse feststellen. Bescheiden fällt auch der Rückgang der „Leistungsstreuung“, also der Unterschiede zwischen den schwächsten und den stärksten Schülern aus: Er liegt bei vier Prozent. In der Leistungsspitze seien wohl sogar „eher Verluste“ hinzunehmen.

In Englisch, das nun mit im Schnitt elf zusätzlichen Minuten pro Woche unterrichtet wird, stellten die Forscher zwar eine abnehmende Leistungsstreuung fest. Einen durchschnittlichen Leistungszuwachs konnten sie aber nicht ausmachen. Vielleicht könnten alte Lücken in Englisch später kaum noch geschlossen werden. Möglicherweise hätten die Schüler wegen der neuen Anforderungen in Mathematik auch weniger Zeit in Englisch investieren können. Überhaupt keine Verbesserungen sehen die Wissenschaftler in den Naturwissenschaften.

War die Quasi-Abschaffung des Kurssystems nötig? Die Wissenschaftler erklären vorsichtig, Auswirkungen im Sinne der von den Politikern gewünschten Ziele seien erkennbar, ihre Bedeutsamkeit aber nur schwer zu bewerten. Vor allem könnten sich (unerforschte) nachteilige Folgen der Neuordnung ergeben haben. So sei nicht klar, ob die Leistungsspitzen ohne Leistungskurse noch adäquat gefördert werden oder ob die hohen Anforderungen in Mathematik zu nachlassender Anstrengung in weniger „zentralen“ Fächern geführt haben.

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