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© dpa

Studentenproteste: Ich brauche Geld

Das Streiksemester an den deutschen Hochschulen geht zu Ende. Ein Student aus Berlin erklärt, warum viele Kommilitonen protestiert haben – er aber nicht.

Es ist nur ein kurzer Augenblick, in dem ich Zeit finde, diese Zeilen zu schreiben, nachdem ich von meinem kurzen Frühstück zum Vorlesungsraum eilte, um ausnahmsweise zu früh dort anzukommen. Aus irgendeinem Grund war heute die Professorin ebenfalls vorzeitig anwesend, so dass sie diesen Raum aufschließen konnte. Die ersten Kommilitonen treffen bereits ein und reden lautstark über Vorlesungen und dass es in dem Hörsaal zu kalt sei. Aber sie lassen zum Glück das Fenster offen, das ich aufgemacht habe, um nicht zu schwitzen.

Gleich wird eine Vorlesung beginnen, deren Inhalt meinen Gedankengang nur kurz unterbrechen wird, bevor sie für immer in Vergessenheit gerät. Der Unterricht interessiert mich nur noch mäßig und ich erinnere mich blass daran, dass es einmal anders war. Im ersten Semester meines Bachelor-Studiengangs in Medieninformatik an der Beuth-Hochschule für Technik war ich noch froh darüber, dass wir die mir bereits bekannte Programmiersprache nur knapp abhandelten. Mittlerweile ist es eine von fünf Sprachen, die wir angerissen haben. In fünf Semestern. Der Lehrplan scheint nicht mehr darauf ausgelegt zu sein, die Themen zu ergründen. Wir bleiben an der Oberfläche, um nicht in den Tiefen eines Gebietes auf etwas zu stoßen, was vielleicht zu zeitintensiv für den Rahmen unseres Studiums wäre.

Jetzt hat doch einer das Fenster geschlossen. Aber ich darf heute nicht schwitzen. Der Grund dafür sind Bewerbungsgespräche. Das erste war kurz vor Unterrichtbeginn bei einem Sandwichladen, das zweite folgt direkt nach meinen Vorlesungen bei einem Informatikunternehmen.

Moment. Gerade werde ich gefragt, ob ich einen Euro „klein machen“ kann. Eine Kommilitonin will sich einen Kaffee kaufen. Kein Problem, Kleingeld habe ich noch.

Seit ungefähr zweieinhalb Jahren finde ich keine Zeit, irgendetwas zu tun, das mich kreativ anregt, weil ich entweder ständig arbeite oder wieder verzweifelt auf der Suche nach einem Job bin. Weil meine Mutter ein paar Euro über dem zulässigen Satz verdient, bekomme ich seit Beginn meines Studiums kein Bafög. Ich muss also nebenbei arbeiten, wodurch sich mein Studium verlängert, was wiederum dazu führt, dass ich auch jetzt kein Bafög mehr beantragen kann, obwohl meine Mutter in diesem Monat in Rente geht.

Mein bisheriger Job bestand darin, Software für Leute zu programmieren, die den Arbeitsaufwand nicht erkannten und einen Hungerlohn zahlten. Schließlich habe ich noch keinen Abschluss. Sie freuten sich nicht einmal über das Schnäppchen, das sie mit mir gemacht hatten. Jetzt brauche ich ein regelmäßiges Einkommen, das mich davor bewahrt, mein Studium abbrechen zu müssen. Aber natürlich darf ich den Unterricht nicht wegen eines Jobs vernachlässigen. Noch ein nachgeholtes Semester halte ich nicht aus.

Die Bewerbung heute Nachmittag ist eher eine Formsache. Ein wahrscheinlich hoffnungsloser Versuch, einen Praktikumsplatz zu ergattern, der ein wenig meine Lebenshaltungskosten sichert. Gerne würde ich einen richtigen Job im IT-Bereich finden, aber für Studierende an Fachhochschulen existieren offenbar nur noch Praktikumsplätze.

Ich werde dort erscheinen, höflich lächelnd, ordentlich gekleidet, mit Zeugnissen und Belegen darüber, dass ich bereits erfolgreich Software entwickelt habe. Der Arbeitgeber wird sich alles anhören. Er wird ebenso höflich lächeln und sein großes Interesse bekunden. Dann wird er mir sagen, dass ich dort anfangen kann. Vollzeit. Für 400 Euro.

Ich werde ihm freundlich erwidern, dass ich während meines Studiums nicht durchgängig arbeiten kann und momentan auch ein wenig mehr Geld bräuchte. Zeitlich wird er sich flexibel zeigen. Er wird mir anbieten, auf zwanzig Arbeitsstunden die Woche runterzugehen. Ohne Bezahlung. Schließlich kann ich ja wertvolle Erfahrungen sammeln – und eine Referenz, die ich später vorweisen kann.

Ich sehe mich so schreiben und mir wird übel dabei. Nicht wegen der gewinnorientierten Haltung der Firmen. Das ist nun mal das Wesen ihrer Arbeit. Wirklich schlecht wird mir davon, mich dabei zu beobachten, wie sehr meine Gedanken sich aktuell um Finanzen drehen. Eigentlich bin ich nicht so. Hoffe ich zumindest. Geld ist mir im Grunde nicht so wichtig. Wenn man allerdings nicht weiß, wie man seine Miete im nächsten Monat zahlen soll, kann das die Perspektive ziemlich verrücken.

Dass ich nicht alleine mit meinen Problemen bin, weiß ich, aber dennoch sind es allein meine Probleme. Überall herrscht Protest und Aufstand. Die Studenten gehen auf die Barrikaden, denn sie sind es leid, nicht arbeiten zu können, weil sie studieren, und nicht studieren zu können, weil sie kein Geld haben. Die Studienzeit wird von vielen in die Länge gezogen, auch um sich Wissen an den Stellen selbst aneignen zu können, wo der Unterricht aufhört.

Diejenigen, die es schaffen, in der Regelstudienzeit zu bleiben, haben häufig eine weitaus schlechtere Fachkenntnis oder lernen sich blind durch den Lehrstoff, nur um diesen nach der nächsten Klausur schnellstmöglich wieder aus dem Kopf zu bekommen. Es ist wesentlich leichter, die Fächer zu bestehen, als in ihnen etwas zu lernen. Es gibt natürlich Ausnahmen, aber mir ist noch keine begegnet. Das Studium verliert zunehmend an Inhalten, aber die Fassade steht noch. Man braucht ja seinen Abschluss.

In Wahrheit mag hierin die größte Befürchtung, das größte Bedauern liegen: Die Freude, etwas zu lernen, was man selbst ausgewählt hatte, weicht zunehmend dem Gefühl, durch einen automatisierten Vorgang geschleust zu werden.

Vielleicht war es einmal anders. Das berühmte Diplom habe ich selbst nicht miterlebt. Aber ich kenne einige Leute, die immer noch in den alten Studiengängen unterrichtet werden. Von ihnen höre ich, dass sie Wissen erarbeiten und nicht einfach Vorlesungsfolien auswendig lernen. Wie schön könnte das Studentenleben sein!

Natürlich ist das eine idealisierte Sicht. Aber auch Professoren merkt man eine sehnsüchtige Freude an, wenn sie erzählen, welche Wissenswerte sie vermitteln konnten, bevor das Bachelorsystem eingeführt wurde. Da entsteht doch das Gefühl, man bekäme etwas vorenthalten.

Und ich sitze hier im Unterricht und höre mir etwas über Typografie und Automaten an. Der Raum ist voll. Keiner streikt. Vielleicht machen Informatiker so was nicht. Zumindest nicht die in meinem Jahrgang. Mich selbst hat der Schrecken vor einem weiteren Semester schon so weit korrumpiert, dass ich tatsächlich in der Vorlesung sitze, anstatt Räume zu besetzen, aus Angst, zu viel Stoff zu verpassen. Und dabei höre ich nicht einmal zu, sondern schreibe diesen Text. Irgendwann war ich anders, und ich muss aufpassen, das Interesse an meinem Fach nicht zu verlieren in dem Sammelsurium aus Ängsten, Lockungen, Drohungen, Versprechen und Bafög-Anträgen.

Ich nehme mir vor, etwas zu ändern. Zumindest an mir. Spätestens morgen. Heute Abend erwarte ich noch Antworten von den Unternehmen, bei denen ich mich den Tag über beworben habe. Ich hoffe, der Sandwichladen sagt zu.

Gregor Keller (25) studiert im 5. Semester Medieninformatik an der Beuth-Hochschule für Technik Berlin (vormals Technische Fachhochschule).

Gregor Keller

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