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In der Hand des Menschen. Im Herbst muss in Deutschland eine neue EU-Richtlinie zu Tierversuchen umgesetzt werden.

© picture-alliance / CTK Rene Volf

Tierversuche: Weniger Leid – für Mensch wie Tier

Manches ist fragwürdig bei den noch immer weit verbreiteten Tierversuchen. Die Wissenschaftsakademien kritisieren die Tierversuchsrichtlinie der EU.

„Wenn der Mensch so viel Leiden schafft, welches Recht hat er dann, sich zu beklagen, sobald er selbst leidet?“ fragte der französische Literaturnobelpreisträger, Pazifist und Tierschützer Romain Rolland zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Wenn es um die von Menschen verursachten Qualen der Tiere geht, denken die meisten wohl an Massentierhaltung und industrielle Schlachtung.

Die Zusammenhänge sind schon hier kompliziert genug. Noch kniffliger werden sie jedoch, wenn es um das kontroverse und emotional schwer befrachtete Thema Tierversuche in der Forschung geht. Demnächst muss sich Deutschland den Reglements dazu in einem neuen Gesetz stellen. Bis zum 10. November muss es fertig sein, so will es die EU, nachdem das europäische Parlament und der Rat der EU im September 2010 eine Richtlinie zum Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere erlassen haben, die die Staaten umsetzen müssen.

Im Januar hat das Landwirtschaftsministerium einen Gesetzentwurf vorgelegt, der neben einer Neufassung des Tierschutzgesetzes auch eine Tierschutz-Versuchstierverordnung enthält. Nun haben 14 Wissenschaftler der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina und der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften eine ausführliche und grundsätzliche Stellungnahme zum Thema „Tierversuche in der Forschung“ veröffentlicht.

An der EU-Richtlinie monieren sie, dass sie die besondere Schutzwürdigkeit einzelner Tierarten nicht durchgängig am Ausmaß von deren Erlebnis- und Leidensfähigkeit festmache. Statt Sachargumenten würden teilweise „Anmutungsfaktoren“ herangezogen: „Fragwürdig ist die Sonderstellung, die die EU-Richtlinie nicht menschlichen Primaten insgesamt, oder Tierarten, die typischerweise als Haustiere gehalten werden, zuschreibt.“

Um möglichst wenig Leid zu verursachen, müsse man jedoch zur Beurteilung heranziehen, was über das Verhalten der Tiere, ihr Nervensystem und ihren Hormonhaushalt bekannt ist. Unter bestimmten Versuchsbedingungen könne ein geringer entwickeltes Tier stärker leiden als ein höher entwickeltes Tier. „Wie wir mit Tieren umgehen, sollte sich daran orientieren, in welcher Weise sie objektiv betroffen sind und nicht daran, welche Einstellungen sich auf sie richten.“

Was Tierversuchsgegner oft nicht wissen: Seit Jahrzehnten dient beim Thema Tierversuche das 3R-Prinzip (ersetzen, verringern, verbessern) als Richtschnur. Das erste R steht dabei für „Replace“, also für die Suche nach Alternativen. Sie können zum Beispiel in Computersimulationen oder Zellkulturen bestehen. Am Bundesinstitut für Risikobewertung widmet sich die Zentralstelle zur Erfassung und Bewertung von Ersatz- und Ergänzungsmethoden zum Tierversuch dem Thema.

Doch nicht immer kann auf den Einsatz lebender Organismen verzichtet werden. „Medizinische Forschung am Menschen muss den allgemein anerkannten wissenschaftlichen Grundsätzen entsprechen und, sofern angemessen, auf Tierversuchen basieren“, heißt es in der Helsinki-Deklaration des Weltärztebundes. Bei neuen Arzneimitteln und Impfstoffen sind sie vor dem Einsatz beim Menschen meist unumgänglich, weil nur sie Auskunft darüber geben, wie ein Organismus reagiert. „Kein noch so ausgefeiltes Reagenzglasexperiment kann Alzheimer simulieren, und auch die besten Computersimulationen müssen an Organismen überprüft werden“, sagte Walter Rosenthal, Vorstandsvorsitzender des Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin (MDC) in Berlin-Buch, anlässlich des „Tages zur Abschaffung von Tierversuchen“.

Das zweite Prinzip des „Reduce“ mahnt jedoch dazu, die Zahl der eingesetzten Versuchstiere zu verringern. „Refine“ wiederum steht für Veränderungen der Versuche, die die Belastungen für die Tiere senken. In der „Basler Deklaration für Experimente an Tieren“, die 2010 verabschiedet und auch vom MDC unterzeichnet wurde, verpflichten sich über 700 europäische Forscher in dieser Hinsicht zu mehr Verantwortung und Transparenz (www.basel-declaration.org ).

Beim erforderlichen Offenlegen der Projekte gegenüber Behörden sollte auch auf den Schutz geistigen Eigentums geachtet werden, mahnen die Verfasser der Akademien-Stellungnahme. Sie wünschen sich, dass die Bereiche der neuen Verordnung, die sich auf Forschung mit Versuchstieren beziehen, teilweise oder ganz in die Verantwortung des Forschungsministeriums übergehen. Tierversuche, die nicht direkt der Forschung, sondern der Aus-, Fort- und Weiterbildung von Mitarbeitern dienen, sind bisher nicht genehmigungspflichtig, sie müssen nur angezeigt werden. „Es sollte geprüft werden, ob diese Sonderstellung in Zukunft beibehalten werden kann.“

Der Tierschutz sei ein hohes Rechtsgut, das in Artikel 20a des Grundgesetzes als Staatsziel ausdrücklich erwähnt wird. Die Schutzpflicht des Staates für Leben und körperliche Unversehrtheit, die in Artikel 2 aufgeführt ist, bezieht sich allerdings ausdrücklich auf den Menschen, dazu kommt die Forschungsfreiheit als Inhalt von Artikel 5. Die Akademien sehen im Grundgesetz eine „asymmetrische Abwägungslage, bei der den Rechten und Pflichten der Menschen strukturell höhere Bedeutung zukommt als dem Gedanken des ethischen Tierschutzes“. Trotzdem sollten Erkenntnisse, die Linderung ihrer Leiden versprechen, so wenig wie möglich mit dem Leiden der Tiere erkauft werden.

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