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Schüler einer Musikschule spielen im Sommer 2020 für die Bewohner eines Altenheims, die wegen der Corona-Pandemie wochenlang keinen Besuch bekommen können.

© picture alliance/dpa

Zusammenhalt in der Pandemie: Was Gesellschaften festigt

Berliner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler untersuchen sozialen Zusammenhalt. Durch das Coronavirus muss vieles neu organisiert werden.

Die Corona-Pandemie hat Auswirkungen auf Gesellschaften weltweit. „Viele Arten des sozialen Miteinanders gibt es gerade nicht mehr, soziale Interaktionen haben sich verändert“, sagt Professor Christian von Scheve von der Freien Universität. „Doch sozialer Zusammenhalt ist ein wesentliches Resultat solcher Interaktionen.“ Der Soziologe und sein Team aus den drei großen Berliner Universitäten untersuchen, wie sich gerade auch unter den Beschränkungen der aktuellen Krise gesellschaftliche Interaktionen, vor allem im Kontext der Zivilgesellschaft, neu organisieren und was das für sozialen Zusammenhalt bedeutet.

Projekte werden mit sieben Millionen Euro gefördert

Das Forschungsprojekt „Social Cohesion and Civil Society. Interaction Dynamics in Times of Disruption“ wird seit Oktober im Rahmen der Grand Challenge Initiative Social Cohesion vom Verbund Berlin University Alliance gefördert, in dem die drei großen Universitäten und die Charité nach ihrem Erfolg im Exzellenzwettbewerb des Bundes und der Länder kooperieren. Mit den Grand Challenge Initiatives sollen gesellschaftliche Herausforderungen von globaler Bedeutung erforscht werden. Sechs Einzelprojekte wurden ausgewählt mit einer Gesamtfördersumme von insgesamt 7,1 Millionen Euro. „Obwohl das Thema lange vor der Coronakrise festgelegt wurde, unterstreicht die aktuelle Situation dessen Wichtigkeit“, sagt Rainer Haag, Professor am Institut für Chemie und Biochemie der Freien Universität und Sprecher des Steuerungskomitees der Grand Challenge Initiatives. „Die ausgewählten Projekte zeichnet ihre große Inter- und Transdisziplinarität aus. Sie bringen verschiedene akademische Bereiche zusammen und kooperieren mit Gruppen außerhalb des akademischen Umfelds.“

Christian von Scheve und sein Team integrieren Perspektiven aus den Sozial- und Geisteswissenschaften, der Psychologie sowie der Informatik und von Partnern aus Gesellschaft und Politik. Sie wollen eine neue konflikt- und interaktionsbasierte Theorie des Zusammenhalts in heutigen Gesellschaften entwickeln. „Nach der bisherigen Forschung entsteht sozialer Zusammenhalt, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind, etwa ein bestimmter Grad an Teilhabe für alle Bevölkerungsgruppen oder an geteilten Werten“, sagt der Projektleiter. Zudem schwinge die Vorstellung von Konfliktfreiheit mit.

Konfliktaustragung ist essenziell für Zusammenhalt

„Doch die Austragung von Konflikten ist ein essenzieller Bestandteil von sozialem Zusammenhalt“, sagt Christian von Scheve. Er verstehe sozialen Zusammenhalt als eine Art von Interaktionsgleichgewicht – Interaktionen zwischen einzelnen Individuen, zwischen Individuen und Gruppen oder zwischen gesellschaftlichen Gruppen. „Die Positionierung der „Fridays for Future“-Bewegung gegenüber „Extinction Rebellion“ etwa ist ein Beispiel von einer solchen zivilgesellschaftlichen Interaktionsdynamik – mit ganz unterschiedlichen Konsequenzen für sozialen Zusammenhalt.“

Auf Solidarität als normativ ausgezeichnete Form der sozialen Kohäsion in den Feldern Arbeit, Wohnen und Gesundheit konzentriert sich Robin Celikates, Professor für Sozialphilosophie an der Freien Universität, gemeinsam mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Humboldt-Universität, der Technischen Universität und der Charité – Universitätsmedizin Berlin, der gemeinsamen medizinischen Fakultät von Freier Universität und Humboldt-Universität. Im Projekt „Transforming Solidarities. Praktiken und Infrastrukturen in der Migrationsgesellschaft“ untersuchen sie, was Solidarität ist, unter welchen Bedingungen sie wo und in welcher Form entsteht und wie sie gefördert oder verhindert wird.

Was bedeutet die Umstellung auf Homeoffice für Gebäudereiniger?

„Die Coronakrise hat deutlich gemacht, dass in den Bereichen Arbeit, Wohnen und Gesundheit auf dem Spiel steht, was Solidarität eigentlich bedeutet“, sagt Robin Celikates. Was bedeutet etwa die Umstellung auf Homeoffice für Bereiche, in denen dies gar nicht möglich ist – für Tätigkeiten wie die Paketzustellung und Gebäudereinigung oder an Supermarktkassen, wo häufig prekär Beschäftigte erhöhten Gesundheitsrisiken ausgesetzt sind?

Auf der medizinischen Seite stelle sich unter anderem die Frage, wie der Trend zur Digitalisierung der Gesundheitsvorsorge und -versorgung auf eine solidarische, integrative Weise umgesetzt werden könne. „Das Gesundheitssystem in Deutschland ist zwar ziemlich gut aufgestellt, aber trotzdem haben nicht alle gleichermaßen Zugang dazu – aus ökonomischen oder sprachlichen Gründen oder weil es soziale Barrieren gibt“, sagt Projektleiter Robin Celikates. Als aktuelles Beispiel dient die Corona-Warn-App: Wie kann man etwa sicherstellen, dass die sprachlichen und technischen Hürden der Nutzung niedrig sind und eine solidarische Teilhabe ermöglicht wird?

Direkten Einfluss auf den Untersuchungsgegenstand hat die Corona-Pandemie auch auf das Projekt „The Laws of Social Cohesion (LSC) – Zur Bedeutung des Rechts für die demokratische Gestaltung sozialen Zusammenhalts“. Das interdisziplinäre, rechts- und sozialwissenschaftliche Team um Andreas Engert von der Freien Universität und Anna-Bettina Kaiser und Silvia von Steinsdorff von der Humboldt-Universität untersucht, wie das Recht das Zusammenleben formt, wie es gesellschaftlichen Zusammenhalt fördert, aber auch, wo die Grenzen seiner Integrationsfähigkeit liegen oder inwiefern es gesellschaftlichen Zusammenhalt möglicherweise sogar gefährdet.

Forschende untersuchen, wie unterschiedlich die Pandemie regional behandelt wird

Unter anderem untersuchen die Forscherinnen und Forscher, wie der Föderalismus des Grundgesetzes dazu beiträgt, unterschiedliche Standpunkte und regionale Bedürfnisse in den Umgang mit der Coronavirus-Pandemie einfließen zu lassen: Mit welchen Argumenten debattieren Landtage über den Lockdown? Argumentieren Parteien in den Ländern anders als auf Bundesebene? Wie fördert die rechtlich erzwungene Berücksichtigung verschiedener Standpunkte gegebenenfalls eine gemeinsame Antwort?

Aus einer globalen Perspektive schauen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Freien Universität und der Humboldt-Universität im Projekt „Beyond social cohesion – Global repertoires of living together (RePLITO)“ auf sozialen Zusammenhalt: „Wir konzentrieren uns auf Verflechtungen, Machtbeziehungen und -ungleichheiten vor allem in Ländern des sogenannten globalen Südens“, sagt Schirin Amir-Moazami, Professorin für Islam in Europa am Institut für Islamwissenschaft der Freien Universität.

Das Team um die Projektleiterinnen Schirin Amir-Moazami und Nadja-Christina Schneider, Professorin am Institut für Asien- und Afrikawissenschaften der Humboldt-Universität, untersucht sogenannte Repertoires des Zusammenlebens in Teilen Asiens, Lateinamerikas, Europas sowie in der Mena-Region (Middle East and North Africa). „Wir versuchen, Wissen sichtbar zu machen und Wissensarchive zu öffnen, die über die Idee von sozialem Zusammenhalt europäischer Prägung hinausgehen und bisher nicht unbedingt mitgedacht wurden und werden“, sagt Schirin Amir-Moazami. „Wir schauen uns beispielsweise historische Narrative zu vormodernen Gesellschaften Südasiens oder des Mittleren Ostens an, in denen Mehrheiten-Minderheiten-Konstellationen, wie wir sie gegenwärtig vorfinden, nicht vorhanden waren.“ Außerdem untersuchen sie alternative Diskurse des Zusammenlebens, die sich in kritischer Auseinandersetzung mit staatlichen Religionspolitiken in Deutschland, der Türkei, Indien oder Indonesien formiert haben. Debatten über das Zusammenleben von Mensch und Natur in Lateinamerika sowie Konzepte vom Individuum in Süd- beziehungsweise Ostafrika stehen auch im Fokus.

Ziel ist ein digitales Wissensarchiv

Ein wichtiges Anliegen in dem Projekt ist es, ein digitales Wissensarchiv zu erstellen, das einen leicht zugänglichen Raum zum Austausch von Ideen bietet. „Die digitale Form ist wunderbar, um laut nachzudenken und um Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler einzubinden“, erklärt Schirin Amir-Moazami. Dazu kooperieren sie mit OFF- University, einer digitalen Universität, die entstanden ist, als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vor allem in der Türkei ihre Posten verloren haben oder das Land verlassen mussten.

Die soziale Rolle von Museen neu zu hinterfragen, ist wiederum Ziel des Projekts „Museen als Räume der sozialen Kohäsion“. Sprecherin ist Bénédicte Savoy, Professorin für Kunstgeschichte der Moderne an der Technischen Universität. Sie und ihr Team gehen im Projekt den Fragen nach, warum Menschen ins Museum gehen, wer sich angesprochen oder ausgeschlossen fühlt und wie Sammlungen soziale Beziehungen verhandeln und auch fördern können. Um die Rolle von Museen als Institutionen im Zentrum virulenter gesellschaftlicher Debatten zu verstehen, werden historische Perspektiven mit empirischen Fallstudien, forschender Lehre und praktischen Interventionen verknüpft mit dem Ziel, grundlegend und innovativ über Museen und Gesellschaft nachzudenken.

Im Forschungsvorhaben „Social cohesion, food and health. Inclusive food system transitions“ um Peter H. Feindt, Professor für Agrar- und Ernährungspolitik an der Humboldt-Universität, wird dieser Zusammenhang zwischen Ernährungssystemen und ernährungsbezogener Gesundheit erstmals systematisch untersucht. Dazu werden Perspektiven aus den Sozial- und Politikwissenschaften, der Ernährungs- und Innovationssystemforschung, der Lebensmitteltechnologie sowie der Medizin und den Ernährungswissenschaften integriert.

„Die Verbundprojekte sind ein großer Zugewinn für die Berliner Wissenschaftslandschaft“, sagt Rainer Haag. Das Ziel sei es, mit kleinen Teams zu starten und während der dreijährigen Förderphase die Projekte auszubauen und eine nachhaltige Struktur zu schaffen.

Olivia Bauer

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