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Forschung: Wettlauf um die Evolution

Charles Darwin gilt heute als Entdecker des Prinzips der Abstammungslehre. Aber es gab einen Konkurrenten: Alfred Wallace.

Am Abend des 1. Juli 1858, vor genau 150 Jahren, fanden sich in den Räumen der ehrwürdigen Linné-Gesellschaft im Burlington House am Piccadilly in London etwa 30 Mitglieder und Gäste ein. Nach kurzen Eröffnungsworten verlas der Sekretär der Gesellschaft die Arbeiten zweier britischer Naturforscher, die selbst nicht anwesend waren und von denen allein einer in die Geschichte als Begründer der Abstammungslehre eingehen sollte: Charles Robert Darwin. Der andere ist heute weitgehend vergessen: Alfred Russel Wallace.

Dabei war es Wallace, der den Anlass zu jenem Abend gegeben hatte. Denn von ihm stammte ein höchst brisantes Manuskript, kaum mehr als 4000 Worte lang und geschrieben während eines Malariaanfalls auf einer weit entfernt im Malaiischen Archipel gelegenen Insel. Darin legte Wallace nicht nur die Idee von der Veränderlichkeit der Arten dar, sondern entwickelte auch den lange gesuchten Evolutionsmechanismus: das Überleben der am besten Angepassten und die Auslese durch die Umwelt. Mit diesem Prinzip der natürlichen Selektion gelang der Durchbruch der Evolutionstheorie.

Zunächst gab es keine Diskussion

Doch anstatt dem Manuskript von Wallace den Vorrang zu geben, wurden bei der Linné-Gesellschaft erst ein kurzer Auszug aus einem bereits 1844 von Darwin verfassten, unveröffentlichten Essay sowie Passagen aus einem Brief von Darwin an einen Kollegen vom September 1857 verlesen. Denn Darwin war bereits zu einem früheren Zeitpunkt auf die Selektionsidee gekommen. Erst dann folgte der Beitrag von Alfred Wallace.

Diese Darwin-Wallace-Papiere stellen nicht nur eine der zentralen Episoden der Biologiegeschichte dar; ihre Veröffentlichung leitete auch eine der größten wissenschaftlichen Revolutionen ein. Allerdings entging den meisten Zuhörern an jenem Juli-Abend die zentrale These - nämlich, dass Arten nicht statisch und gottgeschaffen sind, wie bis dahin angenommen, sondern sich angetrieben durch die natürliche Auslese verändern; eine Diskussion fand nicht statt.

Tragweite der Beiträge wurde nicht erkannt

Auch als die Beiträge von Darwin und Wallace Ende August 1858 im Journal der Linné-Gesellschaft gedruckt erschienen, erkannte kaum jemand die Tragweite ihrer Entdeckung. Tatsächlich sollte Thomas Bell, Präsident der Linné-Gesellschaft, später vor allem deshalb in Erinnerung bleiben, weil er im Rückblick auf das Jahr 1858 bemerkte, "dass es ohne eine jener herausragenden Entdeckungen vergangen ist, die eine Forschungsdisziplin revolutionieren". Erst ein Jahr später erregte Darwins Buch "Über die Entstehung der Arten" Aufsehen.

Die Umstände, die zur ersten Vorstellung der Theorie der Evolution durch Darwins und Wallace' Artikel 1858 führten, gleichen einem Krimi. Bis heute dauert der Disput darüber an, was wirklich geschah. Sicher ist: Was lange als Zufall oder Zeugnis der Großmut zweier bedeutender Forscher galt, ist für einige Historiker einer der ungeheuerlichsten Vorgänge der Biologiegeschichte; ja, sogar von einer der übelsten Betrugsaffären in der Wissenschaft ist die Rede.

Tatsächlich verlief der Wettlauf zwischen Darwin und Wallace um die Evolutionstheorie dramatisch. Manche Autoren haben sogar den Vorwurf geäußert, Darwin könnte Dokumente gefälscht oder vernichtet haben. In jedem Fall sei die Veröffentlichung bei der Linné-Gesellschaft manipuliert worden, um Darwins Urheberanspruch zu wahren. Während die einen explizit oder zwischen den Zeilen den Schluss nahelegen, dass es bei jenem delikaten Arrangement am 1. Juli 1858 nicht mit rechten Dingen zugegangen ist, können andere nicht mehr als einen Anfangsverdacht gegen Darwin ausmachen.

Zusammengeschusterte Fragmente

Unstrittig ist, dass dem publikationsfertigen Aufsatz von Wallace schnell zusammengeschusterte Fragmente aus Darwins Papieren vorangestellt wurden. Darwin hatte daran durchaus seinen Anteil, obgleich die vorgetragenen Auszüge, wie er später zugab, nicht zur Veröffentlichung vorgesehen waren. Sie dienten nur dazu, seine Priorität bei der Entdeckung des Selektionsprinzips zu demonstrieren. Nach heutigem Wissenschaftlerethos - hier zählt die Publikation und nicht die Tatsache, als Erster an etwas gearbeitet zu haben - war das heikle Verfahren eine zweifelhafte Aktion.

Kurioserweise steht und fällt das Bild, das wir uns heute von Darwin machen, mit den Laufzeiten von Wallace' Post aus dem Fernen Osten an Darwin in England. Um die Ereignisse im Sommer 1858 zu rekonstruieren, haben Wissenschaftshistoriker minutiös die Routen und Fahrzeiten der Post- und Frachtschiffe zwischen Ostindien und Europa ermittelt.

Als man in London sein Manuskript verlas, war Alfred Russel Wallace auf einer Expedition durch den Malaiischen Archipel. Als Naturaliensammler und Naturforscher lebte Wallace vom Verkauf der exotischen Tiere und Pflanzen. Er trug dabei eine bedeutende Sammlung naturkundlicher Objekte zusammen. Zudem schrieb er Aufsätze über seine Erkundungen und Entdeckungen, die er bei namhaften Journalen in England einreichte.

Von Februar bis März 1858 war Wallace auf den als Gewürzinseln bekannten Molukken. Während er sich wegen eines Malaria-Anfalls ausruhen musste, kam er auf die Idee mit der natürlichen Selektion. Nachdem er zwischen Fieberstößen seinen Aufsatz verfasst hatte, schickte er ihn Anfang März 1858 mit dem Postdampfer nach England. Allerdings wollte er diesmal zuerst die Meinung Darwins einholen, an den er Begleitbrief und Manuskript adressierte. Wallace stand mit ihm seit einiger Zeit in Kontakt und wusste, dass auch Darwin nach einer Erklärung für die Veränderlichkeit der Arten suchte.

Darwins Aufrichtigkeit ist umstritten

Als Wallace' Aufsatz knapp drei Monate später bei Darwin auf dessen Landsitz in Down in der Grafschaft Kent eintraf, löste er Erstaunen, Verzweiflung und Panik aus. Denn knapp und leicht verständlich hatte Wallace all das über den Evolutionsmechanismus zusammengefasst, was Darwin zuvor in unveröffentlichten Essays und einem Buchmanuskript im Detail ausgearbeitet hatte. Wallace drohte ihm zuvorzukommen und ihn um die entscheidende Entdeckung bei der Artenfrage zu bringen.

Wir wissen heute, dass sich Darwin am 18. Juni 1858 Rat und Hilfe suchend an zwei Freunde wandte: den Geologen Sir Charles Lyell und den Botaniker Joseph Dalton Hooker. Diese beiden arrangierten dann die gemeinsame Veröffentlichung der Darwin-Wallace-Papiere. Umstritten aber ist, ob Darwin möglicherweise nicht ganz aufrichtig war, was die Ankunft von Wallace' Aufsatz angeht.

Kurioserweise sind Wallace' Originalmanuskript und der Begleitbrief an Darwin verschwunden, obgleich sich in den Darwin-Archiven sonst beinahe jedes Stück Papier findet, das von ihm oder an ihn geschrieben wurde. Vor allem aber ergab die Rekonstruktion der Postlaufzeiten, dass Wallace' Aufsatz bereits in den ersten Tagen des Juni 1858 Darwin erreicht haben könnte; einige Historiker vermuten sogar, bereits Mitte oder Ende Mai. Just in dieser Zeit erweiterte Darwin sein Buchmanuskript zur Evolutionstheorie um knapp 40 Seiten. Zwar hatte er das Selektionsprinzip lange vor Wallace gefunden, könnte aber dennoch durch dessen klare Darstellung bestimmte Details noch besser herausgearbeitet haben. Erst nachdem er sein eigenes Buchmanuskript ergänzt hatte, schrieb er hilfesuchend an Lyell und Hooker.

Wallace blieb bescheiden

In einem Brief vom 25. Juni 1858 an Lyell erklärte Darwin, wie froh er wäre, "wenn ich auf etwa einem Dutzend Seiten einen Abriss meiner allgemeinen Überlegungen veröffentlichen könnte". Dann weist er Lyell unmissverständlich einen Weg, um seine Priorität und öffentliche Anerkennung an der Idee der natürlichen Selektion zu sichern, ohne Wallace zu übergehen. "Wenn ich noch ehrlich publizieren könnte, so würde ich anmerken, dass ich durch Wallace' Aufsatz, den er mir zugesandt hat und der meine grundsätzlichen Schlussfolgerungen enthält, jetzt dazu angeregt wurde, einen Auszug meiner eigenen Thesen zu veröffentlichen."

Wallace wusste lange nichts vom feingesponnenen Arrangement um die Veröffentlichung seines Manuskripts. Erst nach seiner Rückkehr nach England 1862 besuchte er Darwin und erfuhr von den näheren Umständen sowie davon, welchen Schrecken er ihm eingejagt hatte. Wallace fühlte sich geehrt, dank der gemeinsamen Veröffentlichung mit Darwin fortan zum Kreis respektabler viktorianischer Naturforscher zu gehören. Stets ließ er zu Lebzeiten Darwin den Vortritt, wenn es um "dessen" Theorie der Evolution ging. Durch diese Bescheidenheit trug Wallace selbst mit dazu bei, dass meist Darwin allein als Urheber der Evolutionstheorie gilt.

Matthias Glaubrecht

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