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Auszug aus Nunez-Roman "Für Rouenna": Leben im Durcheinander

Auszug aus einem Roman von Sigrid Nunez

Nachdem mein erstes Buch erschienen war, bekam ich ein paar Briefe. Die meisten waren von Fremden, von Leuten, die mein Buch gelesen hatten und mich wissen lassen wollten, was sie davon hielten. Es waren überwiegend wohlwollende Briefe, ein paar allerdings waren kritisch(.…) Ich erhielt auch Post von Leuten, die ich früher gekannt hatte. BeinaheFremde: Menschen, zu denen ich seit zwanzig, dreißig Jahren keinen Kontakt mehr hatte und an die ich, wenn überhaupt, nur sehr selten dachte. Fast jeder dieser Briefe begann damit, dass der Absender seinen Zweifel zum Ausdruck brachte, ob ich mich noch an ihn erinnerte, und meine Antwortschreiben begannen stets mit der Versicherung, dass ich mich sehr wohl erinnerte, was der Wahrheit entsprach. Noch bevor ich einen dieser Briefe öffnete, erkannte ich in der Regel den Absendernamen auf dem Umschlag wieder (.…) Unbekannt war mir jedoch fast immer die Adresse des Absenders. Meine alten Bekannten, diese Gespenster aus der Vergangenheit, waren von den Orten, an denen ich sie gekannt hatte, weggezogen(…) Einer der wenigen Briefe aus dem Staat New York war in einem Männergefängnis abgeschickt worden. Manchmal schrieb der Absender persönlich auf den Umschlag oder persönlich und vertraulich. „Hoffentlich kannst Du Dich an mich Idioten noch erinnern“, schrieb der Gefängnisinsasse, „jetzt, wo ich im Knast sitze.“

Im Gegensatz zu den Briefen von Fremden ging es in den Briefen von früheren Bekannten für gewöhnlich nicht um mein Buch. Ja, häufig hatte der Absender das Buch gar nicht gelesen, sondern nur davon gehört, durch eine Besprechung zum Beispiel, und dies zum Anlass genommen, sich „nach all den Jahren“ erneut mit mir in Verbindung zu setzen. Meist waren diese Briefe lang (…) und voller autobiographischer Details. Sie führten mich zurück – ans College, an die High School und noch weiter. Ich hörte von drei Frauen, die in der siebten Klasse meine besten Freundinnen gewesen waren (.…) Nur selten überraschte es mich, zu erfahren, was aus den Leuten geworden war. Sie hatten geheiratet. Sie hatten Kinder bekommen (...) Es war ihr Bedürfnis, mir das alles mitzuteilen, was mich überraschte und rührte.

Ich beantwortete jeden Brief. Und für gewöhnlich hatte es sich damit. Ich hörte nichts mehr von den Leuten und wenn doch, dann nur noch einmal. Vielleicht kam noch ein kurzer Brief oder eine Postkarte. Eine der Freundinnen aus der siebten Klasse grub ein Bild von mir als Dreizehnjährige aus und schickte es mir zusammen mit der Kopie eines Gedichts in meiner eigenen jugendlichen Handschrift, das ich ungelesen wegwarf, weil ich mich nur zu gut an die Art Gedichte erinnerte, die ich mit dreizehn schrieb.

Die Zeit verging. Ein Jahr, noch ein Jahr, genug Zeit, um ein weiteres Buch zu beenden – eine lange Phase, in der keine solchen Briefe eintrafen. Aber eines Tages kam doch noch einer (.…) Diesmal aus Brooklyn. Und diesmal erinnerte ich mich nicht.

Ich erinnerte mich nicht an eine Rouenna Zycinski. Ich war ganz sicher, dass ich sie nie gekannt hatte. Aber gemäß ihrem Brief waren wir vor vielen Jahren Nachbarn in einem Sozialbaugebiet auf Staten Island gewesen. Sie war älter als ich, diese Frau, so alt wie meine ältere Schwester, und sie erinnerte sich an sie und an meine andere Schwester und an meine Mutter und meinen Vater. Sie kannte ihre Namen und die Nummer des Hauses, in dem wir gelebt hatten, und die Nummer der Wohnung – all diese Informationen führte sie in ihrem Brief auf, und alles stimmte. Über diese Welt - die Welt der Sozialbauten – hatte ich in meinem ersten Buch geschrieben, das sie gerade gelesen hatte. Das Buch hatte sie in diese Welt zurückversetzt, hatte viele Erinnerungen wachgerufen, und das war alles, was sie mir mitteilen wollte.

Ich antwortete sofort auf ihren Brief, bedankte mich dafür und vergaß sie dann völlig, bis sie sich ein paar Wochen später erneut meldete. Wir wären, schrieb sie (…) wieder einmal Nachbarn. Brooklyn, Manhattan. Zwei U-Bahn-Haltestellen voneinander entfernt. Eine Sache von Minuten. Könnten wir uns treffen?

Ich wollte nicht. Ich hatte keinerlei Bedürfnis, diese Frau zu treffen (.…) Unsere Bekanntschaft konnte nur marginal gewesen sein. Nicht einmal ihr Name sagte mir etwas. Sie und ihre Familie waren vor ungefähr vierzig Jahren aus dem Sozialbaugebiet fortgezogen. Meine Familie war zehn Jahre später weggezogen. Warum sollten wir uns treffen? Es gab keinen Grund dafür. Und ich hatte das unangenehme Gefühl, dass diese Frau etwas wollte – mehr, als mich nur wiederzusehen. Ich wusste nicht genau, was es war, aber ich meinte, Gefahr zu spüren – nein, Gefahr ist ein zu melodramatischer Ausdruck –, Schwierigkeiten, die aus einem Treffen mit ihr erwachsen könnten, und ich hatte genug Schwierigkeiten. Wäre sie ein Mann gewesen, wäre es mir, glaube ich, nicht schwergefallen, nein zu sagen. Aber ein merkwürdiges Gefühl der Verpflichtung nagte an mir, als ob ich dieser Frau etwas schuldete, dieser vollkommen Fremden von den Rändern meines Buches der Erinnerungen - aber was konnte ich ihr schon schulden?

Ich hatte genug Schwierigkeiten. Die Briefe dieser Frau erreichten mich zu einer eigentümlichen Zeit in meinem Leben – einer unglücklichen Zeit. Als ihr erster Brief kam, hatte ich mich gerade von einem Mann getrennt, mit dem ich seit mehreren Jahren zusammenlebte. Ich war aus der gemeinsamen Wohnung (…) aus- und in eine neue Wohnung eingezogen. Ich war allein (Auch sie war allein; obwohl sie nichts darüber sagte, konnte ich mir nicht vorstellen, dass Rouenna Zycinski nicht allein lebte, zwei U-Bahn-Haltestellen entfernt in Brooklyn.). Mitten im Auspacken hatte ich die Lust verloren und damit aufgehört. Ich lebte im Durcheinander, teils aus Kisten – ich wusste kaum, wo was war. Die Küche war leer, den Herd hatte ich noch kein einziges Mal benutzt – ich ging aus, vom Kaffee am Morgen bis zum Drink um Mitternacht. Ich ging allein aus – ich mied Menschen. Ich mied es, erklären zu müssen, dass G. und ich nicht mehr zusammen waren. Ich mied es, Fragen zu meiner Arbeit – wie stand es mit meinem nächsten Buch – beantworten und zugeben zu müssen, dass es nicht gut darum stand, dass ich dieses Buch aufgegeben hatte. Seit Monaten hatte ich nichts mehr geschrieben.

Ich musste schnell ausziehen und mehr oder weniger die erstbeste Wohnung nehmen, die mir angeboten wurde. Zwei kleine Zimmer, die auch zusammen kein großes ergeben hätten (.…) Fast alle Bewohner des Hauses waren Frauen. Der Besitzer wollte nicht an alleinstehende Männer oder Familien vermieten (.…) Ich hatte vergessen, wie häufig junge Frauen weinen (.…) Häufig hörte ich Paare streiten – wie sich mein Puls beschleunigte, wann immer ich sie hörte. Und als einmal eine gequälte männliche Stimme durch den Luftschacht tönte – ich liebe dich, du blöde Kuh! – , brach ich in Tränen aus.…

Die deutschsprachige Ausgabe „Für Rouenna“ ist im Luchterhand Literaturverlag, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House, erschienen.

Aus dem Amerikanischen von Annette Grube

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