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Selbermachen ist nachhaltig, finden Andrea Arnkens (links) und Davina Grazia Glatz vom „Selfmade“-Laden in Tempelhof.

© Doris Spiekermann-Klaas

Zu Besuch im Berliner „Selfmade“-Laden: Wie Corona die Lust am Selbermachen neu geweckt hat

Makramee, Rucksäcke mit Dackeln und natürlich Masken: In Corona-Zeiten boomt die Do-It-Yourself-Branche wie nie. Zu Besuch im „Selfmade“ in Tempelhof.

Die schiere Pracht an Farben, Stoffen und Kurzwaren ist schon beim Betreten des Geschäfts betörend. In den Holzregalen des „Selfmade“-Ladens in der Tempelhofer Friedrich-Karl-Straße stapeln sich mehr als 2500 Stoffrollen. Sie sind in einer Unzahl von Tönen gehalten, von grell bis bedeckt, unifarben oder mit allerhand Mustern, aus rauem oder gefälligerem Material.

Darüber stehen Bezeichnungen wie Bekleidungsstoffe, Outdoor-Stoffe, Möbelstoffe oder festliche Stoffe. Darunter: Wolle, Cord, Jacquard, Fleece oder Kunstfell, weiter Spitze, Jersey, Chiffon, Viskose, Seide oder Tüll. Auch lange vergessene Namen wie Pannesamt, Krepp oder Musselin finden wieder in die Erinnerung der Besucher. „Insgesamt müssten es an die 12.000 Meter Stoff sein“, schätzt Shop-Managerin Andrea Arnkens.

Seit Januar hat der dänische Selbermach-Laden, der vorher als „Stoff und Stil“ in der Landsberger Allee zu Hause war, seinen neuen Standort am Tempelhofer Hafen. Hier bekommt der Besucher recht schnell ein Gefühl für die beinahe endlosen Möglichkeiten, die ihm zum Selbstherstellen von „schönen Dingen“ zur Verfügung stehen.

Derzeit dürften es vor allem Geschenkvorschläge oder Gegenstände sein, die auf das nahende Weihnachten einstimmen. Zumal in diesem Jahr, wenn die Pandemie die Freizeit-Optionen stark einschränkt, sich derlei Schaffensarbeit auch als gemeinsam verbrachte Zeit und besinnliches Handwerk für die ganze Familie in der Adventszeit eignet.

Bereits vor Corona war die Tendenz zum Selbermachen stetig gestiegen. Die sogenannte Do-It-Yourself-Branche (kurz: DIY) umfasst sowohl die klassischen Bau- und Heimwerkermärkte als auch Fachmärkte und Kleinbetriebe. Laut dem Handelsverband Heimwerken, Bauen, Garten (BHB) hat sich der Umsatz im DIY-Markt in den vergangenen zehn Jahren von 42,5 Milliarden Euro 2009 auf 46,9 Milliarden Euro 2019 gesteigert. Im Vergleich zum Vorjahr waren es mehr als zwei Prozent. Dabei erwirtschafteten die Baumärkte etwa die Hälfte des Umsatzes, die Fachmärkte ein weiteres Drittel und die Kleinbetriebe den übrigen Umsatz.

Nicht verschwenden – wiederverwenden. Wie hier für Schlüsselanhänger.
Nicht verschwenden – wiederverwenden. Wie hier für Schlüsselanhänger.

© Doris Spiekermann-Klaas

Im Corona-Jahr hat sich dieser Trend weiter verstärkt. Bereits im Frühjahrs-Lockdown erlebten die noch offenen Heimwerkermärkte einen Ansturm. Etliche Kurzarbeiter machten aus Mangel an Alternativen „Heim-Urlaub“ oder gingen höchstens auf „Baumarkt-Urlaub“, wie es scherzhaft hieß, um die frei gewordene Zeit zu nutzen, ihr Zuhause, das mit einem Mal an Bedeutung gewonnen hatte, nach ihren Vorstellungen umzugestalten. Die Umsätze der DIY-Branche sind nach Angaben des Handelsverbandes BHB im ersten Halbjahr 2020 um ganze 15,6 Prozent auf fast zwölf Milliarden Euro gestiegen.

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Im vergangenen Sommer hat der Möbelriese Ikea 38.000 Menschen in 37 Ländern zu ihrem Wohnverhalten befragt. In Deutschland gaben zwei von fünf Befragten an, im Verlauf der Pandemie ihr Haus oder ihre Wohnung an die neuen Bedürfnisse angepasst zu haben. Und laut einer Auswertung des Digitalverbands Bitkom befinden sich die Produkte zum Selbermachen auf Platz zehn der beliebtesten Artikel beim Kauf im Internet – bei rund 65 Prozent der Online-Shopper.

Schnittmuster direkt aus Vlies

Dabei kann jeder, der den Willen dazu hat, sich auch davon das meiste selbst herstellen. Im Selfmade-Laden beweisen das ganze Regale voller Schnittmuster. Im Unterschied zu den Vorlagen anderer Anbieter bestünden die Muster hier aber nicht aus Papier, sondern aus Vlies, sagt Arnkens. Das habe den Vorteil, dass sie länger hielten und sich auch direkt am Körper anpassen ließen. „Wer es mal ausprobiert hat, weiß, wie schnell Papier dabei reißt.“ Die Schnittmuster gibt es schon fertig in der jeweils benötigten Größe zu kaufen.

Wie das Ergebnis aussehen kann, zeigen in Retro-, klassischem oder ganz hippem Design lebensgroße Puppen. Einige tragen metallisch schimmernde Jacken in Orange oder Neongrün, Fischerhüte in Gelb, Mäntel aus karamellfarbenem Teddystoff und dazu quer über die Schulter geworfene Bauchtaschen. „Mitunter sind das die gefragtesten Richtungen zurzeit“, erklärt Customer-Brand-Managerin Davina Grazia Glatz.

„Die ewige Suche hat damit ein Ende“

Dabei strebten die Kunden an, ein exklusives Stück zu besitzen, das ganz ihren Vorstellungen entspricht. „Die ewige Suche hat damit ein Ende“, sagt Arnkens. Die 58-Jährige hat sich erst neulich einen Schal gestrickt und einen Hut genäht. „Dieses beglückende Gefühl kann süchtig machen.“ Zudem legten Kunden, ob jung oder alt, auf Nachhaltigkeit viel Wert, dem versucht Selfmade nachzukommen.

Das Sortiment an Biostoffen solle nach und nach erweitert werden. Das hochwertige Geschenkpapier sei sowieso zur mehrmaligen Verwendung bestimmt. Und zu Weihnachten ließen sich Geschenke besonders gut auch in Stoff einwickeln, empfiehlt Arnkens. Für die 28-jährige Glatz ist Selbermachen an sich schon ein Unterfangen, das auf Langlebigkeit abzielt. „Wer seine kostbare Zeit in die Herstellung investiert hat, achtet auf das Stück besser – oder repariert es, wenn es kaputt geht.“

Besonders beliebt war der Kurs zum Umgang mit der Nähmaschine.
Besonders beliebt war der Kurs zum Umgang mit der Nähmaschine.

© Doris Spiekermann-Klaas

Auf zwei Geschossen und insgesamt rund 1500 Quadratmetern reicht die Bandbreite des Ladens von filigranem Schmuck bis zu Polstermöbel-Zubehör. „Was zum Beispiel gut geht: einen alten Holzstuhl auf dem Flohmarkt kaufen und ihn mit unserer Hilfe neu beziehen“, schlägt Arnkens vor. Zum Selfmade- Team gehören neben den beiden Managerinnen auch Schneider, Bekleidungstechniker, Mode-Designer und Raumausstatter. Auf der Webseite gibt es für zahlreiche Produkte eine Gratis-Anleitung.

Workshops im Instagram-Livestream

Vor der Pandemie und selbst während der zwischenzeitlichen Corona-Lockerungen konnten Kunden zudem Workshops besuchen. Die verschiedenen Workshops sind derzeit in Live-Übertragungen auf dem Kanal „Instagram“ im Internet aufrufbar. „Im Laden sind wir aber nach wie vor für die Kunden da, um sie bei allen Fragen persönlich zu beraten“, sagt Arnkens.

Die 29-jährige Lena Baumgarten hat an diesem Tag keine Beratung gebraucht. Sie habe nach einem wasserdichten Outdoor-Stoff gesucht, erzählt sie. Daraus will Baumgarten ihrer kleinen Tochter einen Rucksack zum Fahrradfahren schneidern. Fündig geworden ist sie dabei recht schnell: „Man findet hier immer etwas Besonderes“, sagt die Kundin, die während ihrer Schwangerschaft das Nähen für sich wiederentdeckt hat. Baumgarten hat einen blauen Stoff mit Dackeln darauf gewählt. „Da wir auch zwei Hunde haben, passt das ganz gut.“ 

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Die günstigsten Angebote fangen im Selfmade bei rund fünf Euro an. Dafür könnten sich die handwerklich Geübten bereits eine Maske aus bedruckter Baumwolle nähen, Perlen in bunten Farben für ein Armband oder eine Halskette aufziehen oder einen Schlüsselanhänger aus Makramee knüpfen. Zu den teuersten Materialien gehöre dagegen Kunstfell für 69 Euro pro Meter. Die Nähmaschinen rangierten von Anfängermodellen für 300 Euro bis zur Profi-Ausstattung für 1700 Euro.

Doch die Kunden, die keine Nähmaschine besitzen, müssen auch nicht zwingend eine kaufen. Im Obergeschoss stehen ihnen sechs Nähstationen zur Verfügung – auch während des derzeitigen Teil-Lockdowns. Da jeder allein arbeitet, reicht der Platz allemal aus, um die Abstandsregelungen einzuhalten. Einzige Voraussetzung: eine Pfandgebühr in Höhe von zehn Euro.

Der „Nähmaschinen-Führerschein“ war meistgebuchter Kurs

Dabei müssen Kunden allerdings die Maschine bedienen können. Einsteiger haben es im Augenblick schwer. Noch bis vor Kurzem war es ihnen möglich, für 25 Euro in einem dreistündigen Kurs den „Nähmaschinen-Führerschein“ zu erwerben. „Das war unser meistgebuchter Kurs“, sagt Glatz. Fast jeder, der dabei war, sei auch wiedergekommen. Das Angebot ruht aber bis auf weiteres – wegen Corona.

All dem zum Trotz hat sich im Selfmade dieser Tage eine vorweihnachtliche Stimmung ausgebreitet. Auf den Auslagetischen scheint es von Weihnachtsgeschenken nur so zu wimmeln. Dazu zählen fertige Produkt-Boxen samt Anleitung, geschickte Hände nähen daraus Rucksäcke, Geschirrhandtücher, Baby-Badetücher und Lätzchen oder stricken einen Bubi-Kragen. Strick-Liebhaber finden runde Taschen aus braunem Echtleder, die eigens dafür da sind, auf Reisen mitgenommen zu werden. Wer beispielsweise im Zug stricken will, kann die Wollfäden direkt daraus durch zwei extra Löcher ziehen. „So bleibt die Wolle sauber“, erläutert Glatz.

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Zudem gibt es Nähkästen in beinah allen Größen und Formen. Darin enthalten sind goldene Scheren und Fingerhüte, silberne Fadenscheren und Fadenschneider, Nahtauftrenner, Kreidestift, Einfädelhilfe, Maßband, Nadelkissen oder Magnethalter: Hätten sich die Stecknadeln, wie oft üblich, überall in der Wohnung verteilt, müsse man nur einmal mit dem Magneten drüber gehen und schon seien alle wieder eingesammelt, sagt Arnkens. „Das ist wirklich praktisch.“

Familienunternehmen in zweiter Generation

Das Selfmade ist nach wie vor ein Familienunternehmen. Das Ehepaar Marianne und Peter Lerche hatte vor 40 Jahren im dänischen Herning die Firma Peter’s Resthal gegründet. Von Textilherstellern aus der Umgebung bekamen sie Restposten umsonst oder für nur kleines Geld und verkauften sie weiter. Mittlerweile hat das Unternehmen rund 30 Filialen in Dänemark, Norwegen, Schweden und Deutschland und wird schon in der zweiten Generation geführt.

Auf der Webseite von „Stoff und Stil“, wie die meisten Filialen noch immer heißen, stehen drei Tipps für alle, die mit dem Selbermachen beginnen wollen: „Nehmen Sie sich Zeit für Ihre Projekte. Denken Sie nicht, dass es schnell gehen muss. Genießen Sie den schöpferischen Prozess.“  

Gerade Familien, die in diesem Jahr noch mehr als sonst die weihnachtstypische Überforderung fürchten, könnten sich von diesen Sätzen leiten lassen, wenn sie sich mit den Kindern gestalterisch austoben. So können sie, je nach Alter der Familienmitglieder, Nikolausstiefel aus glänzendem Jacquard-Stoff oder anderen exquisiten Materialien entwerfen, Stofftiere häkeln und mit Acrylwatte füllen, Sterne aus veganem Leder schneidern, Weihnachtsschmuck aus Knetmasse modellieren und im Ofen backen oder Weihnachtswichtel aus Filz in unzähligen Formen und Schwierigkeitsgraden herstellen – oder geflügelte Mäuse, Rentiere oder Pinguine.

Im Online-Shop gibt es unter dem Stichwort „Weihnachten“ rund 500 Produkte zum Selbermachen. Und wer sich darum sorgt, dass seine Kinder aus coronabedingtem Mangel an Bewegung diesmal zu sehr zu Süßigkeiten greifen, kann ihnen die nicht minder süßen Bonbons als Kleidungs-Applikationen schenken.

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