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 Die Tänzerin und Choreografin Xiao Ke in Jérôme Bels nach ihr benanntem Stück.

© Feng Yifei

Am Nullpunkt des Tanzes: Zwei Performances des französischen Choreografen Jérôme Bel im HAU

Mit „Xiao Ke“ und „ Jérôme Bel“ blickt der bedeutende Konzepttanz-Vertreter auf sein Schaffen zurück. Im HAU spielt Ruth Rosenfeld die Rolle von „Jérôme Bel“.

Von Sandra Luzina

Wo ist Jérôme Bel? Am Freitagabend saß der französische Choreograf im HAU2 vor seinem Laptop und führte in sein Stück „Xiao Ke“ ein. Die chinesische Tänzerin schaltet sich von Shanghai aus dazu. Die 42-Jährige, die eine erstaunliche Wandlung durchlaufen hat, ist heute eine radikale Underground-Künstlerin. Ihre Erzählung spiegelt auch die Entwicklung Chinas zu einem kapitalistischen Wirtschaftssystem.

Am Montagabend sitzt nun die Schauspielerin Ruth Rosenfeld vom Ensemble der Schaubühne im HAU2. „Ich heiße Jérôme Bel“ beginnt sie ihren langen Monolog. In dem Stück „Jérôme Bel“ widmet der Franzose sich dem eigenen künstlerischen Schaffen. Seine Erzählung nennt er „Auto-bio-choreo-grafie“. „Ich bin Single, habe eine 16-jährige Tochter, ich lebe in Paris, bin 57 Jahre alt und identifiziere mich als Choreograf“, fährt Rosenfeld fort. Und wendet sich direkt an das Publikum. Es werde in dieser Erzählung keine unerwarteten Wendungen und keine Auflösung geben. Wer sich langweile, könne ruhig den Saal verlassen. Alle bleiben.

So wie Bel den Tanz als Theaterform hinterfragt, so unterläuft er nun die Erwartungen an eine Künstler-Biografie. Er erzählt von seinen Anfängen als Tänzer, seiner Hinwendung zur Choreografie, seinen Erfolgen und Misserfolgen, doch es geht ihm nicht darum, sein Licht noch heller erstrahlen zu lassen. Ausführlich legt Bel, der als einer der wichtigsten Vertreter des Konzepttanzes gilt, seine Methoden dar. Privates gibt er kaum preis.

Als Tänzer führte er ein glamouröses Leben. Als er 27 war, starben zwei seiner Freunde an den Folgen von Aids – das war ein Wendepunkt. Als er sich dann entschloss, Choreograf zu werden, schloss er sich erst mal zwei Jahre zu Hause ein und las Bücher, wichtige Werke des französischen Poststrukturalismus und Dekonstruktivismus.

Derrida hat ihn geprägt, aber auch der Semiotiker Roland Barthes. Eine von dessen bekanntesten Schriften trägt den Titel „Am Nullpunkt der Literatur“. Das war es, was auch Bel wollte: sich mit seinen Arbeiten an den „Nullpunkt des Tanzes“ zu begeben. In seinen Arbeiten untersucht Bel die Regeln und Konventionen des Bühnentanzes; getanzt wird entweder gar nicht oder nur wenig.

Veronique Doisneau in einem Stück von Jérôme Bel.
Veronique Doisneau in einem Stück von Jérôme Bel.

© Hebbel am Ufer

In seinem zweiten Stück „Jérôme Bel“ (1995) fokussierte er sich auf den Körper als Instrument des Tanzes. Die Performer:innen treten nackt auf. Ein kurzer Videoausschnitt zeigt eine Frau, die heftig an ihrer Haut zieht. Bel wollte die Verletzlichkeit des Körpers zeigen. Erst später erkannte er, dass es in dem Stück um die Aids-Krise ging.

Ende der Neunziger verliebte Bel sich in eine portugiesische Choreografin. Er zog zu ihr und wollte mit ihr viele Kinder zeugen. Die Beziehung hielt nicht lange. Danach entwarf er „The show must go on“. Die Texte von 19 berühmten Popsongs fungieren als Anweisung für die Performer:innen. Bei David Bowie bewegen die Tänzer:innen sich erst, die Titelzeile „Let’s Dance“ erklingt. Auch hier verweigert Bel sich dem Spektakel.

Auch Roberta Flacks Song „Killing Me Softly“ wird gespielt. Seine beiden Assistentinnen verstehen nicht, warum Bel möchte, dass nur eine Tänzerin sich zum Sterben hinlegt. Später dämmert ihm, dass er damit wohl die portugiesische Choreografin killen wollte. In dieser Anekdote blitzt Bels Selbstironie auf.

Der Monolog ist auch eine Selbstvergewisserung

Auf Einladung der Pariser Oper schuf er „Veronique Doisneau“, das erste seiner choreografischen Porträts. Er habe sich an der Methode des Ethnologen Lévi-Strauss orientiert und die Ballettänzer:innen wie ein fremdes Volks studiert, erläutert Rosenfeld. Das Solo ist eine Kritik am extrem hierarchischen System der Oper.

Als er 2012 auf Einladung des Zürcher Theaters Hora das Stück „Disabled Theater“ kreiert, ist das ein weiter Wendepunkt. Bei Hora treten Darsteller:innen mit Trisomie 21 auf; bei ihnen funktioniert Bels Arbeitsweise, die stark auf Sprache basiert, nicht. Also bittet er sie, ein Solo zu Musik ihrer Wahl zu kreieren. Bel ist beeindruckt von der „ungehemmten Tanzlust“ und der „absoluten Präsenz“ der Darsteller:innen. Das Stück wird zwar kontrovers diskutiert, aber es wird ein Erfolg.

Bei diesem Rückblick könnte der Eindruck entstehen, dass dies Bels letztes Stück ist. „Aber kurz, nachdem der Text fertig ist, kommen mir wieder neue Ideen.“ So endet der Monolog, der in zwei Stunden 30 Jahre choreografisches Schaffen rekapituliert. Man erfährt Erhellendes über Bels Arbeitsweisen und begreift, was ihn antreibt. Der Monolog ist auch eine Selbstvergewisserung. Die kühle Intellektualtität bekommt schon mal Risse. Bel berichtet von seinen Zweifeln und hinterfragt seine Ablehnung von Emotionen.

Der Choreograf und sein Double: Ruth Rosenfeld macht ihre Sache gut. Gegen Ende steht sie auf und verdoppelt die Bewegungen einer Tänzerin auf der Leinwand. Ein schöner Moment! Bel hat ihn nicht gesehen, obwohl er noch in Berlin weilte. Er hat das Stück der Interpretin übergeben. Was sich an diesem Abend als kluge Entscheidung entpuppt.

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