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Roland Barthes, 1978

© imago/Leemage

Das bin doch ich: Roland Barthes geht Marcel Proust auf den Grund

Der Philosoph hat sich ein Leben lang mit der „Recherche“ und ihrem Autor beschäftigt. Die Literatur wirkt dabei stets farbiger als die Wirklichkeit.

Als Roland Barthes im Herbst 1978 mit dem Hörfunksender France Culture einen Ausflug zu den Orten von Marcel Proust macht, in Paris und Illiers, einem Dorf zwanzig Kilometer westlich von Chartres, entfährt es ihm im Gespräch mit dem Journalisten Jean Montalbetti: „Tatsächlich erscheint das Combray, das wir sehen werden, das heißt Illiers, sehr viel kleiner, um nicht zu sagen schäbiger (...), sehr viel farbloser als das außergewöhnliche Konstrukt, das wir in der ,Recherche’ finden.“

Der Einbruch der Literatur in die Wirklichkeit: Aus Illiers wurde Illiers-Combray

Das Gespräch dieses Ausflugs ist einer der Höhepunkte eines jetzt zu Prousts 100. Todestag erschienenen Buches, das die Notizen, Aufsätze und Vorlesungen des großen, 1980 nach einem Verkehrsunfall verstorbenen Zeichendeuters Roland Barthes versammelt, inklusive einer Auswahl seiner vielen, vielen Karteikarten, die Barthes zu Proust angelegt hat.

Schon 1932, da ist er gerade einmal 17 Jahre alt, liest Barthes den ersten Band der „Recherche“. Er mag den ersten Band, hält sich für „Eine Liebe von Swann“ aber noch zu jung. Das ändert sich natürlich, und nachdem er 1963 in sein Tagebuch geschrieben hatte „ich tauche in Proust ein“, beginnt er sich in den folgenden Jahren Notizen zu machen und Vorlesungen vorzubereiten. Dabei intensiviert sich die Beschäftigung noch einmal, als 1977 Barthes’ Mutter stirbt - ein Einschnitt für ihn, den er, wohlwissend um diese mythologische Analogie, mit dem von Prousts Mutter 1905 gleichsetzt. Proust hatte diesen Tod, bei aller Trauer, allem Schmerz, nicht zuletzt als Schreibmovens verstanden.

Barthes identifiziert sich mit Proust, natürlich nicht mit dem weltberühmten Autor, sondern dem „sich abquälenden, bald überschwenglichen Arbeiter, der sich eine Aufgabe gestellt hat“. Auch er hat einen Roman im Sinn und möchte weg vom Essayistischen, Literaturwissenschaftlichen, möchte mit der „einförmig intellektuellen Ausrichtung meiner früheren Schriften“ brechen.

So kommt er immer wieder auf den Zeitpunkt zurück, so schwer dieser zu fassen ist, (September 1909 für ihn, doch die 75 Blätter gab es da schon, was Barthes nicht wusste), da Proust sein Literatur-Essay-Hybrid „Gegen Saint-Beuve“ aufgibt und sich geradezu „galoppierend“ an die „Recherche“ setzt. Barthes geht es um das Schreiben als Lebensaufgabe bei Proust, im wörtlichen Sinn, das Leben für das Schreiben aufgeben, um das Ende der „Recherche“, da für den Erzähler erst das Schreiben beginnt. Darauf folgt das komplizierte Autor-Erzähler-Verhältnis, das rückwirkend die biografischen Lesarten so schwer macht.

Proust-Biografien sind immer ein Doppel der „Recherche“

Für Barthes ergibt es keinen Sinn, nach „Schlüsseln“ in der „Recherche“ zu suchen, den Autor (Proust), Erzähler (Marcel) und das Ich des Romans (noch diffiziler zu bestimmen) gleichzusetzen. Ihm erscheint da eine Biografie wie die Mitte der sechziger Jahre erschienene von George D. Painter, bei aller Transparenz, wie „ein Doppel des Romans“. Denn „es ist das Werk, das ins Leben ausstrahlt.“

Barthes ist mit seinem Helden gewissermaßen ganz unten, ganz gegen Saint-Beuve. Auch wenn er oft sich selbst meint, hellt er Proust und die „Recherche“ in seinen Überlegungen schön auf. Erinnern, weiß Barthes, ist immer besser als irgendwo hinzugehen, irgendwas real abzuzeichnen. Besser sei es, „gesehen zu haben, als zu sehen“, formuliert er ein Paradox, um die Macht der Literatur auf den Punkt zu bringen. Aber nicht nur diese: Nur so lässt sich auch die Kindheit als Paradies verstehen.

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