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Das knallig orangefarbene Gebäudes des Diesterweg-Gymnasiums in Berlin-Mitte.

© Doris Spiekermann-klaas

Architektur für Utopisten : Berlin ist das Bildungsnotstand-Land

Am Umgang mit Schulgebäuden zeigen sich die Werte und Hoffnungen einer Gesellschaft, ist unser Autor überzeugt. Ein Kommentar zur Verschwendung von Ressourcen.

Ein Kommentar von Nikolaus Bernau

Dass Schule mehr ist als die Eintrichterung von Fakten-Wissen, ist bekannt. Im Guten wie im Bösen, im Schulsystem, in Unterrichtsmethoden, auch in der Architektur. Die Schulen, in denen wir alle einmal gelernt haben oder noch lernen und lehren, zeigen in ihren Formen immer ziemlich genau, welche Werte eine Gesellschaft vertreten will, welche Hoffnungen für die kommenden Gesellschaften sie hat.

So wie das knallorange einstige Disterweg-Gymnasium an der Swinemünder Straße im Wedding, das 1977 als Teil des gigantischen Schulneubauprogramms der Ära Willy Brandt eröffnet, 2011 aber leer gezogen wurde.

Inzwischen muss der Bau als letzter der einst weltweit debattierten Oberschulneubauten West-Berlins gelten – die anderen fielen seit den 1980ern dem Abriss zum Opfer, obwohl sie nach der Asbest-Sanierung ohne Weiteres wieder errichtet hätten werden können. Aber es galten neue, konservativere Ideale.

Ein Symbolbau für den Bildungsnotstand Berlins

Immerhin, diese Schule wurde vor kurzem endlich unter Denkmalschutz gestellt, als Symbolbau jener 68er-Bildungsreformer, die für eine offene, das einzelne Kind entfaltende Liberalisierung der Gesellschaft fochten. Ein Bau, der längst aber auch ein Symbol des Bildungsnotstand-Landes Berlin geworden ist. Statt diese hervorragende Ressource zu nutzen, sollte sie lange abgerissen werden. Neubau einer Schule, Neubau von Wohnungen, alternative Projekte aller Art, was wurde hier nicht alles vorgeschlagen. Und während die Schülerzahlen stiegen, verfiel der Bau.

Man muss sich das Desaster ansehen, um es zu glauben: Ein riesiger Sportplatz, auf dem Wildblumen wachsen; eine geschlossene Sporthalle, in der ein Wasserschaden nicht beseitigt wurde; große Klassenzimmer, in denen sogar paralleler Unterricht für Behinderte und Nicht-Behinderte stattfinden kann, wie der Architekt Justus Pysall in einer Untersuchung des von seinem Vater Hans-Joachim Pysall entworfenen Baus schon vor vier Jahren feststellte; eine breite „Schulstraße“, auf der sich einst die Kinder treffen konnten – der grandiose Raum ist durch die Netzgläser der verschlossenen Türen noch zu erahnen; eine lichtdurchflutete Halle, die zugleich als Aula, Mensa oder Theater verwendet werden konnte.

Alles steht seit 2011 leer, verfällt, wird vandalisiert. Pysall klagt zu Recht: „Wir haben here Ziele – aber die Kinder müssen in Containern lernen.“ Es ist die Kultur einer unglaublich reichen Gesellschaft, vor der wir hier stehen, die glaubt, sie könne sich die Verschwendung von Materie und Lebenschancen leisten, das Hickhack zwischen Verwaltungen und Politiker:innen.

Was für eine Hoffnung dieser Bau mit seinen üppigen Rundungen, knalligen Farben und breiten Fenstern dagegen ausstrahlt: Dass Bildung auch im Arbeiterviertel Lebenschancen öffnet, dass Schule ein Teil der Stadt sein soll.

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