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Als wär’s ein neuer Band von Harry Potter. Werbeplakat für Prinz Harrys Buch «Spare» (auf Deutsch: „Reserve“) im Fenster einer Londoner Buchhandlung.

© dpa / Tayfun Salci

Autobiografie und Fiktion: Die erfundene Wahrheit

Prinz Harrys Memoir „Reserve“ lebt von der Kunst des amerikanischen Ghostwriters J.R. Moehringer.

Ein Kommentar von Gregor Dotzauer

Wahre Geschichten gelten seit jeher als die besten Geschichten. Um den Makel der Fiktion abzustreifen, kokettierte schon Daniel Defoe im Titel seines 1719 erschienenen Romans „The Life and Strange Surprising Adentures of Robinson Crusoe, of York, Mariner“ mit dem Zusatz „Written by Himself“. Dabei war sein Ich-Erzähler fast rundum erfunden.

Neben dem schottischen Seemann Alexander Selkirk, über den er einen Zeitschriftenartikel gelesen hatte, speiste er sich wohl aus vielen Quellen. Aus Selkirks gut vier Jahren auf einer einsamen Insel im Südpazifik wurden 28 in der Karibik, während Crusoes schwarzer Gefährte und Diener Freitag dieser halben Ewigkeit dramaturgische Bewegung verlieh – und dem Helden ein Bekehrungsgefäß seines christlich-missionarischen Eifers zur Seite stellte.

Zweifel an der Authentizität versuchte Defoe, bis zu seinem Romandebüt ein Starjournalist seiner Zeit, über beide Fortsetzungsbände hinweg auszulöschen. Noch das Vorwort zu den „Serious Reflections“, dem Abschluss der Trilogie, beharrte auf der Historizität des Geschehens. Gezeichnet: Robinson Crusoe.

Offenbarung der Saison?

Im Fall von Prinz Harrys Memoir „Reserve“ (im Original: „Spare“), das manche Auguren noch vor Erscheinen zur literarischen Offenbarung der Saison ausrufen wollen, verhält es sich gewissermaßen umgekehrt. Der Pakt mit dem Leser über den nichtfiktionalen Wahrheitsgehalt des Erzählten ist weitaus weniger fragil als bei Defoe.

Protagonist und Autor erheben ohne jedes Hintertürchen Anspruch darauf, eins zu sein. Hätte man nicht aus den Medien erfahren, dass sich hinter „Reserve“ der amerikanische Journalist J.R. Moehringer als Ghostwriter verbirgt, man wäre ihm nur in den Danksagungen begegnet.

Das ist weder unüblich noch verboten. Doch es lenkt die Aufmerksamkeit auf die romanhaften Strategien, denen diese Autobiografie unterliegt. Wenn Moehringer, der mit „Tender Bar“ ein eigenes, von George Clooney verfilmtes Memoir vorgelegt hat, als Ghost von „Reserve“ nur halb so raffiniert verfahren ist wie bei André Agassis Selbstporträt „Open“, hat Prinz Harry gute Chancen, einen sagenhaften Aufstieg vom frustrierten rich kid mit Familienproblemen zum Tragöden durchzumachen. Die Wege dieser Selbststilisierung sind im Zweifel interessanter als jeder royale Klatsch.

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