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Berlin: 10 Jahre Deutsche Einheit: Die Ankläger sehen dem 3. Oktober gelassen entgegen

Der Countdown läuft. Noch ermitteln die Berliner Staatsanwälte gegen ehemalige SED-Funktionäre, DDR-Richter und Sportärzte, doch am 3.

Der Countdown läuft. Noch ermitteln die Berliner Staatsanwälte gegen ehemalige SED-Funktionäre, DDR-Richter und Sportärzte, doch am 3. Oktober endet ein Kapitel deutscher Rechtsgeschichte: Die meisten Delikte der so genannten Regierungskriminalität verjähren zum Vereinigungsjubiläum endgültig. Die Berliner Ankläger sehen dem Tag offenbar inzwischen gelassen entgegen. "Wir sind weitgehend fertig geworden", sagt Oberstaatsanwalt Rüdiger Schmidt, dessen Abteilung für die Verfolgung von Rechtsbeugung und Doping zuständig ist. Rund 14 000 Eingänge zählte man in zehn Jahren. "Davon sind zwölf offene Verfahren übrig geblieben."

Spannend dürfte es aber beispielsweise noch im Fall von Dieter S. werden, der sich derzeit vor dem Landgericht wegen Rechtsbeugung verantworten muss. Der Angeklagte soll zwischen 1979 bis 1989 als Generalstaatsanwalt an der Inhaftierung ausreisewilliger DDR-Bürger mitgewirkt haben. Noch bis zum 2. Oktober will das Gericht mehrmals wöchentlich zusammentreten: Kommt es noch rechtzeitig zu einem Urteil, ist die Verjährung aufgehoben. Ohne Richterspruch kann Dieter S. als freier Mann nach Hause gehen.

1990 hatten Bundestag und Bundesrat beschlossen, die Verjährungfristen für die unter dem SED-Regime begangenen Delikte erst ab dem 3. Oktober 1990 in Kraft treten zu lassen. Rund 23 000 Ermittlungsvorgänge hatte die Berliner Staatsanwaltschaft in der Folgezeit zu bearbeiten. Als 1993 noch immer eine Fülle von Verfahren offen war, beschlossen Bundestag und Bundesrat eine Verlängerung der Verjährung bis 1997. Für mittelschwere Delikte wurde die Frist dann noch einmal verlängert - bis zum zehnten Jahrestag der Wiedervereinigung. In den vergangenen Monaten arbeitete die Berliner Staatsanwaltschaft deshalb unter Hochdruck. Inzwischen bewegen sich die noch offenen Verfahren im Vergleich zu den Eingängen im Promillebereich: Im Bereich der Regierungs- und Vereinigungskriminalität beispielsweise sind derzeit 13 Verfahren von der Verjährung betroffen. Oberstaatsanwalt Bernhard Brocher sagt, man habe in den vergangenen Monaten "unter Hochdruck" gearbeitet, eine weitere Fristverlängerung würde seiner Abteilung jetzt kaum helfen. "Es gibt keinen Fall, der wegen mangelnder Ressourcen verjährt."

Es gehört zum Alltag der Ankläger, dass das Gros der Verfahren schließlich eingestellt wird. Bis vergangenen September entwickelten sich aus den 23 000 Eingängen lediglich 598 Anklagen. Brochers Abteilung brachte beispielsweise in diesem Zeitraum 180 Fälle "vereinigungsbedingter Wirtschaftstrafsachen" vor Gericht: 128 Angeklagte wurden verurteilt. Drei erhielten eine Verwarnung, 54 eine Geldstrafe, 62 eine Bewährungsstrafe, 9 eine Freiheitsstrafe.

Die Prozesse um die Opfer an Mauer und Stacheldraht sind von dem Stichtag nicht betroffen. Denn Totschlag verjährt erst nach 30 Jahren. Aber auch hier sind die meisten Verfahren abgeschlossen. 270 Menschen ließen laut Staatsanwaltschaft bis zum Mauerfall an der Demarkationslinie ihr Leben, davon 109 rund um Berlin. Bis heute sprach das Landgericht 90 Urteile gegen Mauerschützen und ihre Vorgesetzten: 51 Angeklagte erhielten einen Freispruch, 84 einen Schuldspruch.

Zwölf Prozesse stehen wegen "Verbrechen an der Grenze" noch an, neben ehemaligen Grenzkommandeuren und Stabschefs sind aber auch sechs Mauerschützen angeklagt. Doch weshalb werden sie erst zehn Jahre nach Mauerfall zur Verantwortung gezogen? Wegen der langwierigen Ermittlungen, sagt Jahntz. "Zuweilen konnten wir erst durch gezieltes Suchen bei der Gauck-Behörde herausfinden, wer an diesem Abend Streife hatte."

Gegen zwei ehemalige Mitglieder der politischen Führung ließ der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) Anfang des Monats Milde walten: Er begnadigte die beiden zu dreijähriger Haft verurteilten früheren SED-Politbüro-Mitglieder Günter Schabowski und Günther Kleiber. Außerdem erließ Diepgen dem Ex-Grenzkommandeur Bernhard Geier aus gesundheitlichen Gründen den Rest der Strafe. Zur Begründung erklärte Diepgen, er wolle zum bevorstehenden Jahrestag ein "Zeichen" setzen. Er verwies darauf, dass sich die Ex-Spitzenfunktionäre zu ihrer Verantwortung für das SED-Regime bekannt hätten.

Wegen der Mauertoten am Landgericht wurden Egon Krenz, Günter Schabowksky, Günther Kleiber und Heinz Keßler verurteilt. Nicht begnadigt wurde der letzte Staats- und Parteichef Krenz. Er wird noch in diesem Jahr sein Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bekommen. Krenz macht geltend, dass die Bundesrepublik Deutschland ihre alten und neue Bürger "ungleich" behandele. Derzeit verbüßt Krenz seine sechseinhalbjährige Freiheitsstrafe im offenen Vollzug.

Der SED-Westexperte Herbert Häber und die beiden Politbüro-Mitglieder Siegfried Lorenz und Hans-Joachim Böhme warten derweil auf das Revisionsverfahren. Sie waren im Juli im so genannten zweiten Politbüro-Prozess vom Vorwurf des Totschlags durch Unterlassen freigesprochen worden.

Am 3. Oktober wird es im Berliner Landgericht wieder etwas stiller werden. In den vergangenen Monaten hatten die von der Verjährung betroffenen Verfahren - darunter auch die Prozesse um das DDR-Doping - zuweilen hektische Betriebsamkeit ausgelöst. So stellten die Richter im Doping-Prozess gegen den Ex-DDR-Sportchef Manfred Ewald 120 der 142 angeklagten Fälle ein, um das Verfahren fristgerecht beenden zu können. Ewald wurde Mitte Juli zu einer Bewährungsstrafe verurteilt.

Wenn die Staatsanwälte SED-Unrecht zur Anklage bringen, klagen die Betroffenen überwiegend über die "Siegerjustiz". Manche von ihnen retten sich jetzt mit einem Attest über die ablaufende Zeit. Denn bei den Angeklagten handele es sich oft um "alte, gebrechliche Leute", sagt Oberstaatsanwalt Schmidt. "Und manchmal wird die Krankheit eben über den 3. Oktober rübergezogen." In einem anderen Fall gab die Justiz vorzeitig auf: Im Juli lehnte das Landgericht ab, einen Stasi-Abteilungsleiter, der nicht zu seinem Prozess erschienen war, per Haftbefehl suchen zu lassen. Die Begründung der Richter: Selbst wenn man den wegen Aussageerpressung angeklagten Ex-Offizier bald fassen könnte, sei eine Verurteilung bis zum 2. Oktober kaum zu gewährleisten.

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