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„Alle dürfen Ramadan machen, nur ich nicht“: Wie eine Berliner Pflegemutter das Fasten begleitet
Für den geflüchteten Pflegesohn ist der Ramadan ein Ritual, das die Verbindung zur syrischen Familie und zur Religion festigt. Für die Pflegemutter eine Herausforderung mit Lerneffekt.
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Am Anfang gab es beinahe Tränen. Das Kind, damals noch elf, saß im neuen Zuhause in der Wohnküche und war verzweifelt. Wir hatten noch keine gemeinsame Sprache, aber ein gemeinsames starkes liebevolles Gefühl füreinander, gerade am Anfang muss die Chemie stimmen zwischen Pflegesohn und Pflegemutter.
Mit Mimik, Gestik und Wörtern wurde mir bedeutet: „Alle dürfen Ramadan machen, nur ich nicht!“ Es folgten eine Aufzählung vieler Jungsnamen und ein flehender und zugleich wütender Blick.
Dann versuchte ich, mich mit einfachen Worten verständlich zu machen: „Ich sage nicht nein zu Ramadan! Das darf und will ich nicht! Ich mache mir nur große Sorgen, wenn Du viel rennst und spielst und gar nichts isst und trinkst!“ Unser Premieren-Ramadan lag 2016 ausgerechnet im Hochsommer: Frühstück, Mittag und Abendessen auf einmal gab es für ihn erst nachts gegen halb zehn. Das war weit nach der Schlafenszeit für den Fünftklässler, der noch in der Willkommensklasse war.
Für ihn bedeutete Ramadan eine Verbindung nach Syrien
Mit Fasten hatte ich bis dahin wenig am Hut, ich hatte es mal mit Anfang zwanzig aus Entschlackungsgründen probiert, richtig gut tat es mir nicht. Freiwillig gleich vier Wochen lang asketisch leben, von dreiviertel fünf Uhr früh bis beinahe Mitternacht. Das soll gut sein? Ja. Weil es für ihn auch eine Verbindung zu den Eltern in Syrien war, weil Fasten nicht nur zu seinem Glauben gehört, sondern, weil er es unbedingt will.
Lass ihn einfach. Er schafft das!
Deutsch-arabische Pizzabäcker aus der Nachbarschaft
Die Pizzabäcker aus dem Libanon in unserer Nachbarschaft gehörten damals in puncto Fasten zu meinen wichtigsten Ratgebern. „Lass ihn einfach. Er schafft das!“ Aber was, wenn er umkippt! Wenn die meisten Klassenkameraden in der Pause ihre Stullen aus der Brotbox holen? Wie ich erfuhr, muss er ja als Junge noch gar nicht fasten, erst ab dem Teenageralter ist das Fokussieren auf Gott und Glauben ohne Ablenkung geboten. Aber es mache Kinder einfach mega stolz, wenn sie es schon früher schaffen, hieß es.
Mein Pflegesohn hat schon in Syrien gefastet, und nun in Berlin seit 2016 jeweils alle Tage komplett bis auf einen Tag, das war einmal an seinem Geburtstag. Heute ist er 19. Nach ein paar Jahren erklärte er mir, er lebe so seine Religion, und er trainiere so auch seinen Willen, durchzuhalten. Für seine Mitschüler war sein Fasten ganz schnell normal, und er ist ja nicht der einzige, der fastet.
Seine leibliche Mutter war 2016 noch in Syrien. Noch kannten wir beide uns nicht persönlich, seine Eltern und Geschwister lebten Jahre und gefühlt Hunderttausende Kilometer weit weg in einer fernen Welt. Zu Ramadan blickte ich immer intensiv auf mein Handy. Denn seine Mutter sendete per WhatsApp Bilder und Infos zu Stand und Erscheinungsbild des Mondes, nach dem sich der Beginn des Ramadan richtet.
Tischtennis auf der Terrasse zum Zeitvertreib
In den ersten Jahren spielten er und ich in Berlin spätabends zum Zeitvertreib auf der Terrasse Fußball und Mini-Tischtennis und sahen dabei sehnsüchtig dem Sonnenuntergang zu, der das Fastenbrechen einleitet. Der Moscheekalender gibt auf die Minute vor, wann Essen und Trinken wieder erlaubt ist. Und wann mein Junge mir erlaubt, ihn wieder mit Nahrung, Wasser und neuer Energie zu versorgen, damit er anschließend gesättigt einschlafen kann.
Ich komme so zu mehr Disziplin.
Pflegesohn, heute 19, über das Fasten.
Ramadan war anfangs doch eine Herausforderung. Es fasten ja nicht alle Muslime und nicht jeder, der es vorhat, schafft es auch und zieht es durch. Ich gebe zu, ich stelle nicht noch vor Sonnenaufgang den Wecker, um dem Jungen in aller Herrgottsfrühe im Dunkeln Orangensaft und Spiegelei zu servieren. Wenn er zu Ramadan bei der leiblichen Familie ist, zelebrieren sie das leichte Essen des „Sahur“ spätnachts oder vor dem Sonnenaufgang.
Meine Sorge, dass die Schule und die Konzentration leiden könnten, hat sich zum Glück nicht bestätigt. Mein Sohn mag Ramadan sehr: „Ich komme zu mehr Disziplin und ich schätze vieles mehr, wie die Tatsache, mir sonst einfach alles nehmen zu können, worauf ich Appetit habe. Ich kann mich dann auch besser in Menschen hineinversetzen, die tagtäglich Hunger haben.“

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Im heiligen Fastenmonat gibt es aber auch Schulsport, bei 35 Grad im Schatten, Klettern in der Pause und noch Fußballtraining am Nachmittag. Bitte trinke doch wenigstens etwas! Ihr sitzt auf Klassenfahrt lange im aufgeheizten Bus! Nee. Später gestand er, an jenem Tag sei es ihm schon schwergefallen. Durch sein Wesen, und die Willensstärke, gewann er mein Herz.
Warum heutzutage nicht auch Handy-Ramadan?
Es gibt aus pflegemütterlicher Sicht auch unerwartet positive Seiten am Ramadan. Ich brauche zum Beispiel, ganz profan, tagsüber im Berufsstress nicht fürs Mittagessen zu sorgen. Und die Fastenzeit bereichert auch mich. Obwohl ich selbst nicht religiös bin, lässt mich der Glauben meines Jungen nicht unberührt. Für ihn ist das Fasten eine religiöse Erfahrung, eine Verbindung zu Gott. Und weil wir uns so nahe stehen, erfasst auch mich ein Funke davon.
Wir diskutieren im Ramadan auch leidenschaftlich über Glauben, über Theorie und Realität, über Gott und die Welt. Über Toleranz. Ich merke dann an, dass Gläubige überall auf der Welt Glauben völlig anderes ausleben, dass Gott oder Götter offensichtlich völlig andere sind. Und viele Menschen auf der Welt auch gar keinen Glauben haben. Ich sage immer, meine Religion ist die Humanität.
Manchmal provoziere ich auch und frage: „Wenn es, in jegliche Richtung, um Enthaltsamkeit geht und darum, so Allah nahe zu sein, warum gibt es dann heutzutage nicht auch zeitgemäß Handy-Ramadan?“ Ich sage das mit einem Augenzwinkern. Und bekomme vom Oberstufenschüler auf dem Weg zum Abitur ein Augenrollen gen Himmel zurück.
Gratulieren zum Durchhalten?: Völliger Quatsch
Heute möchte ich Ramadan tatsächlich nicht mehr missen. Es war schon 2016 ein Erlebnis, das Fastenbrechen mit den geflüchteten Jungs fröhlich und ausgelassen begehen zu dürfen, damals noch als Jugendgruppe, mit anderen Pflegeeltern und ehrenamtlichen Vormündern, damals noch zu Gast in der Moschee.
Es macht mich stolz, dass der Kerl es erträgt, dass seine nervende Pflegemutter all die Jahre Zuhause immer wieder anführt, es könne eventuell ungesund sein, und dass er stets willensstark auf die Minute genau Gabel und Messer in die Hand nimmt. Ich gratuliere ihm dann jeden Abend stolz zum Durchhalten, was er völligen Quatsch findet. Er fastet einfach gern.

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2024 ist unser neunter Ramadan, easy. In diesem Jahr hatte ich die festliche Zeit, Entschuldigung, gedanklich in den April oder Mai verlegt, die vier Wochen wandern aktuell ja leicht nach vorne im Jahr. Daher bin ich jetzt im März mit Freundinnen ein paar Tage zum Snowboarden in Österreich. Ich finde es sehr schade, dass ich in diesem Jahr das erste gemeinsame Fastenbrechen mit meiner Wahlfamilie verpasse, denn ich genieße die familiäre Geselligkeit bei ihnen und auch, wie gut Mama und Schwester kochen. Aber wenn zum Finale Zuckerfest ist, bin ich ja längst wieder aus den Bergen des Skigebiets Axamer Lizum zurück, wo auf dem Gipfelkreuz steht: „Für Gott und Heimat“, und ich in Liebe an ihn denke. Wir alle geben uns immer Geschenke von Herzen: zum Zuckerfest – und zu Weihnachten.
Das größte Geschenk meines Lebens ist mein Sohn, mit all dem, was zu ihm gehört, was uns eint und was uns unterscheidet. Zu uns beiden gehört auch diese besondere Innigkeit in der Zeit des Verzichts im Ramadan. Ich möchte auf ihn und all das nicht mehr verzichten. Ramadan Kareem, frohen Ramadan!
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