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© dpa

SERIE: Als die Quadriga zu Bruch ging

Aus dem Fest wurde eine Tragödie: Der Jahreswechsel nach dem Mauerfall endete mit einem Toten, vielen Verletzten und einem demolierten Brandenburger Tor

Hunderttausende feierten den Jahreswechsel 1989/90 am Brandenburger Tor, ausgelassen, freudetrunken, entfesselt. Hinterher kam der Kater. Die Polizei zog traurige Bilanz: ein Toter, 271 Verletzte, das historische Bauwerk und die Quadriga demoliert im Rausch der gesamtdeutschen Silvesternacht.

Es war ein Jahrhundertereignis. Die Berliner feierten in die Zukunft hinein, die sie gespannt erwarteten. 28 Jahre lang war das Brandenburger Tor als Symbol der Teilung verriegelt und verrammelt, erst seit dem 22. Dezember wieder offen. Nun wurde es als Symbol der Einheit dieser Stadt mit Urgewalt in Besitz genommen, wie man es in den ersten Tagen nach dem Mauerfall probiert hatte. Noch war die Zukunft ungewiss. Was ändert sich wann und wie für mich und dich?, fragte man sich. Egal, alles, alles musste sich wenden, und darauf: Prosit!

Es wurde reichlich geprostet und ohrenbetäubend laut mit Feuerwerkskörpern geknallt. Gläser mitbringen!, es gebe Sekt auch gratis, hatte man in Rundfunk und Fernsehen gehört.Wildfremde Menschen lagen sich in den Armen, Ossis, Wessis, Touristen aus aller Welt, nach Schätzungen amüsierten sich 500 000 bis eine Million Menschen. Es regnete „Sektduschen“. Raketen schossen aus Flaschen und flitzten durch die Gegend, Sonnenräder flogen den Leuten um die Ohren, Knallkörper gerieten ihnen zwischen die Füße.

Ein deutsch-deutsches Konzert auf einer über die Mauer hinweg gebauten Bühne unterblieb; die West-Berliner Polizei hatte ernste Sicherheitsbedenken bekundet. Wer war eigentlich der Veranstalter dieser bis dahin unvorstellbaren Massenparty noch zumal im Osten? Irgendwie das DDR-Fernsehen, aber offenbar unangemeldet. Die Vopo forderte nämlich hinterher eine Änderung der DDR-Veranstaltungsordnung von 1980, nach der Betriebe, Kombinate, Rundfunk- und Fernsehen Feste zum Jahreswechsel nicht anzumelden hätten.

Schon gegen 22 Uhr stürzten Betrunkene von der Mauer am Brandenburger Tor. Vergeblich hatten Vopos immer wieder über Lautsprecher davor gewarnt, das Tor und die Mauer zu besteigen; Hunderte turnten darauf herum. Und dann passierte das große Unglück nachts gegen halb zwei: Ein mehr als 15 Meter hohes Aluminiumgerüst des DDR-Fernsehens brach mitsamt Videoleinwand unter der Last einer Vielzahl von Menschen zusammen, die von dort aus auf das Tor klettern wollten. Es gab 80 Verletzte.

Rettungswagen hatten ihre liebe Not, durch das Gewusel zu gelangen. Nüchterne bahnten ihnen schließlich eine Gasse, indem sie sich unterhakten und Ketten bildeten. Aggressionen gab es auch in der alkoholisierten Menge. Hilfsfahrzeuge wurden mit Feuerwerkskörpern beworfen. Einige blieben mit platten Reifen liegen, denn überall lagen Glasscherben herum.

Die Verletzten wurden in Ost- und West-Berliner Krankenhäusern wegen ihrer Knochenbrüche, Schädel-Hirn-Traumata, Brandwunden, Prellungen oder einfach Schürfwunden verarztet. Vor der Sowjetischen Botschaft Unter den Linden aber wurde ein 24-jähriger Mann aus Charlottenburg tot geborgen. Die Obduktion ergab: Wirbelsäulenfraktur und Aortariss infolge eines Sturzes.

In dieser Nacht ging allerhand zu Bruch. Von der Quadriga wurden Kupferteile gerissen, Metallblätter vom Siegeskranz der Viktoria abgebrochen, das Geschirr der Pferde zerstört. Das DDR-Fernsehen registrierte verletzte Mitarbeiter, demolierte Aufbauten, zertrümmerte Kameras, zehn beschädigte Autos. Gelobt wurde auch etwas: die gute Ost-West-Zusammenarbeit von Polizei, Feuerwehr und Straßenreinigung im „Kampf um das Brandenburger Tor“.

Wie sich herausstellte, hatte der Zahn der Zeit ohnehin schwer am Tor und an der Quadriga genagt, alles morsch, rissig, rostig. Die Wiederherstellung nach Bombenschäden war lange her. 1957 war die Quadriga in der West-Berliner Gießerei Noack nach alten Formen neu gegossen worden. Da der Ost-Magistrat und der West-Senat nicht miteinander sprachen, hatte der Senat ungefragt dafür gesorgt und das Werk auf der Tiergartenseite des Tors abstellen lassen. Von dort wurde das Geschenk im Dunkel der Nacht in den Osten gezogen. Kein Wort wurde darüber verloren, aber alle waren zufrieden.

Jetzt war die Restaurierung fällig. Bei dieser Gelegenheit erhielt die Quadriga den Preußen-Adler und das Eiserne Kreuz zurück; beides war 1957 höchst unerwünscht. Der dringenden Reparatur des Tors 1990/91 folgte die große Restaurierung 2000 bis 2002 für knapp fünf Millionen Mark aus Mitteln der Stiftung Denkmalschutz. Am 3. Oktober 2002, zur Feier des 12. Jahrestages der Einheit, wurde das endlich wieder strahlende Wahrzeichen in der Abenddämmerung enthüllt, im Beisein des vormaligen amerikanischen Präsidenten Bill Clinton. Diesmal war es ein manierliches Freudenfest, die Einheit war ja längst Alltag. Brigitte Grunert

JAHRE

EINHEIT

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