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Berlin: Alter schützt vor Erbstreit nicht

Der 100 Jahre alte Gerhard Kücken kämpft wütend um das Testament seiner zweiten Frau – gegen seine Stiefkinder

Nein, er will sich nicht setzen. Er will im Stehen streiten, in seinem dunkelblauen Anzug. Und er will sich nicht ständig unterbrechen lassen. Von dieser jungen Richterin da vorne, könnte ja schließlich seine Ur-Enkeltochter sein, rein theoretisch. Gerhard Kücken schimpft: „Reden Sie jetzt oder ich?“

Gerhard Kücken ist 100 Jahre alt. Er steht im Berliner Landgericht, um zu kämpfen. Um 18 000 Euro. Und um seine Ehre. „Die haben mich ja schließlich als Erbschleicher bezeichnet“, sagt Kücken auf dem Flur. „Die“ stehen weit weg am anderen Ende, seine Stieftochter Evelyn und sein Stiefsohn Klaus. „Die“ fechten das Testament an, das ihre Mutter drei Monate vor ihrem Tod unterschrieben hat. Das Kücken zum Alleinerben machte. Betrug, sagt Evelyn B. „Damals konnte die Mutti gar nichts mehr sehen.“

Im Saal redet sich Kücken in Rage. „Sie war doch 15 Jahre jünger als ich!“ Kücken fuchtelt mit dem Zeigefinger. „Es war doch wahrscheinlich, dass ich eher gehe!“ Es war das, was man wohl eine späte Liebe nennt: Kücken war 94, als er seine Frau Anneliese, eine Witwe aus Magdeburg, heiratete. Nachdem seine Frau einen Schlaganfall erlitten hatte, machte Kücken ein Testament, in dem sich die Eheleute gegenseitig als Alleinerben einsetzten. Kücken klopft mit der Hand auf den Richtertisch. „Sie hat ganz genau verstanden, was sie da macht!“

Es ist unruhig auf der Zuhörerbank. Mal schnauft einer rechts, mal links, je nachdem wer vorne gerade redet. Die Stiefkinder haben sich Verstärkung aus Magdeburg mitgebracht, Kücken seine Anhänger aus Wilmersdorf. Einen Pfarrer, eine Freundin, eine Nachbarin. „Eine Schande ist das“, sagt Jürgen Rieger von der Lindenkirchengemeinde. „Das ist so ein aufrichtiger Mann.“ Als vorne Evelyn W. das Wort erhebt, über ihre Fürsorge spricht, „unsere Mutti“ und ihre angeschlagene Gesundheit, stürmt Kücken’s Nachbarin aus dem Saal. „Ich wäre sonst noch explodiert“, schimpft die Frau. Und: von wegen blind! „Wenn ich etwas Feines anhatte, guckte Anneliese immer mit ihrem einen Auge und sagte: Ach, siehst Du heute schick aus!“

Evelyn K. lässt sich im Saal davon nicht aus der Ruhe bringen. Sie wippt beim Reden leicht auf und ab, die Hände hält sie auf dem Rücken verschränkt. „Wir haben uns alle um die Mutti gekümmert“, sagt sie. „Und wenn es Herrn Kücken schlecht ging, haben wir auch ihn umsorgt.“ Seit einem halben Jahr herrscht in der Familie aber nur noch Hass. Seitdem Anneliese gestorben ist, die Kinder das Geld von den Konten räumten und Kücken eine lange Liste schickten: Den Schmuck der Mutter verlangten sie. Zwei Bilder. Und das Zahngold.

„Schlimm“, sagt Bettina Hassler. Die Rechtsanwältin im schwarzen Talar hat sich aufs Erbrecht spezialisiert, kennt die Abgründe des Lebens, „aber das ist schon krass“. Seit einigen Wochen erhält Kücken außerdem fiese Anrufe. „Hier spricht dein toter Bruder! Du bist ein Lügner!“, johlt die Stimme dann in den Hörer. Und erst gestern lag wieder einer dieser Drohbriefe im Kasten. Ohne Unterschrift. Wie immer.

Die Richterin will heute gar nichts entscheiden. Nicht ohne Gutachter, der die Atteste von damals liest. Der mit den Zeugen über Annelieses Gesundheit spricht. „Sollen sie doch!“, raunzt Kücken auf dem Flur. Er hatte mit einem schnellen Sieg gerechnet.

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