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Berlin: Anneliese Krause (Geb. 1935)

"Versteckt euch nicht!", sagte sie. Und jetzt versteckte sie sich selbst

Sie erstarrte mitten in der Bewegung. Leicht nach vorn gebeugt über einer Krankenakte, den Stift in der Hand. Der Abdruck dieser behaarten Pranke brannte auf ihrem Hintern. Die Erstarrung löste sich und ihr Herz begann zu trommeln. Sie drehte sich auf dem Absatz um. Da stand er, seine Affenhände schon in den Taschen des weißen Kittels, und grinste. Sie wusste nicht, was sie mehr hasste, den Schlag oder das Feixen. Der feine Herr Oberarzt, der allen Krankenschwestern nachstellte, auch den kurzbeinigen und den ergrauten.

Oder hasste sie sich selbst am meisten? Dafür, dass sie nicht den Mut aufbrachte, diesem Rohling die Meinung zu sagen, mitten in sein aufgeblasenes Gesicht hinein? Sie war doch sonst kein schreckhaftes Reh. Hier ging es um etwas Grundsätzliches, das wusste sie, nicht nur um diesen einen Mann.

Anneliese hatte bei ihrer Mutter gesehen, wie es ist, wenn die Frau sich um alles kümmert, sich nach Trümmersteinen bückt und an die anderen Frauen weiterreicht, Essbares im Umland beschafft, die eigene demente Mutter versorgt, der Tochter, Anneliese, ein Blumenkleid aus einem Stück Vorhang näht, für die britischen Alliierten Texte abtippt. Und wie der Mann dann nach Jahren wieder vor der Tür steht, zurück aus der Kriegsgefangenschaft, wenig gesprächig, dafür mit unerschütterlichen Vorstellungen von Ehe und Kindererziehung: „Die Engländer kommen auch ohne dich zurecht“, sagte er zu seiner Frau. Annelieses Kleid stopfte er in die Mülltonne: „Du legst es wohl darauf an, dass die Jungs dir nachgaffen.“

Feminismus, Anneliese kannte dieses Wort damals nicht. Aber sie empfand die Notwendigkeit tief und deutlich. Nein, den Büstenhalter riss sie sich nicht vom Leib, später, in den Sechzigern, sie ging nicht auf die Straße mit einem Paragraf-218-Plakat in der Hand. Aber sie sagte, was sie dachte, während der Sitzungen im Krankenhaus, sprach mit fester Stimme, wenn sie der Ansicht war, ein Arzt irre sich. Es stand kein „Dr.“ auf dem Schild an ihrem Kittel, doch war sie es, die Tag und Nacht von einem Patienten zum anderen lief, Wunden verband, Fieber maß, Bettpfannen entleerte, Spritzen setzte. Sie kannte die medizinischen Fachbegriffe ebenso wie die Doktoren, aber die brauchte sie nicht, wenn jemand vor Schmerzen weinte. Kamen junge Mädchen ins Krankenhaus, frisch von der Schwesternschule, unsicher nach unten blickend oder die langen Wimpern zu den Augen des Oberarztes emporschlagend, nahm sie sie zur Seite und sagte, sie sollen das Kreuz durchdrücken und nach vorn schauen und sich darauf verlassen, was sie gelernt haben. „Versteckt euch nicht“, sagte sie. Und jetzt versteckte sie sich selbst.

Ging es doch nicht um etwas Grundsätzliches? Ging es allein um sie? Darum, dass sie immer nur der Gast auf Hochzeiten gewesen war, nie die Braut? Zu ihren Freunden zählten auch Männer. Mit denen sah sie Filme im Kino, traf sich in Restaurants, lud sie auch in ihre Wohnung ein. Hatte sie sich nie auf eine längere Beziehung eingelassen, weil sie fürchtete, dann doch fügsam zu werden, so, wie ihre Mutter es geworden war?

Anneliese stellte den Oberarzt nicht zur Rede. Sie machte einfach weiter. Verband Wunden, maß Fieber, entleerte Bettpfannen, setzte Spritzen und tröstete die, die vor Schmerz weinten. Als sie aufgehört hatte zu arbeiten, ging sie häufiger mit ihren alten Freunden ins Kino und ins Restaurant, lud sie manchmal auch in ihre Wohnung ein. Ab und an kamen die jungen Mädchen von damals zu ihr, selbstbewusste Frauen jetzt, und erzählten, wie Anneliese im Schwesternzimmer gestanden und ihnen zugerufen hatte: „Versteckt euch nicht.“

Im Mai starb sie an einer verschleppten Lungenentzündung. Tatjana Wulfert

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