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Berlin: Auf Sozialismus genormt

Handtuchgröße, Brotkruste, Würfelzucker-Löslichkeit – für alles gab es einen DDR-Standard. Mit der Einheit endeten die Ostmaße

Wie lange der DDR-Würfelzucker brauchen durfte, um sich im Wasser aufzulösen, ist nicht mehr zu rekonstruieren. Die entsprechende Norm hat sich in Luft aufgelöst. Die übrigen „DDR-Standards“ sind noch alle da: Rund 30 000 vergilbte Broschüren und Einzelblätter, doppelseitig bedruckt mit Schreibmaschinenlettern oder farblosen Grafiken, zusammengepfercht in kartonierten Schubern, aufgereiht und durchnummeriert, auf blauen Regalböden endgelagert im Berliner DIN-Institut, das früher zum systemfeindlichen Ausland gehörte.

DIN A 4 kennt jeder, aber TGL 0-476? So hieß die DDR-Norm für Papierformate. Wobei man in der DDR zur Norm Standard sagte, weil der Begriff Norm bereits als Plansollbezeichnung vergeben war. Schon 1954 beschloss der DDR-Ministerrat, ein eigenes Normwesen aufzubauen, weil der Sozialismus eben andere Wünsche und Nöte hatte als der Kapitalismus. Bestimmte Qualitätsnormen bei der Stahlverarbeitung oder der Stromdurchleitung konnte die DDR-Wirtschaft einfach nicht erreichen, also wurden die Anforderungen entsprechend gesenkt.

Im Ernährungsbereich, so klagten die Planwirtschaftler in der DDR, gebe es ohnehin viel zu wenig einheitliche DIN-Normen, also entstanden „Technische Normen, Gütevorschriften und Lieferbedingungen“, kurz: TGL-Normen. Sie legten fest, wie groß ein Handtuch sein sollte oder woraus ein Weizenmischbrot zu bestehen hat und wann es spätestens beim Kunden sein muss. Auch der „Abstand von der Brotaußenkante bis zum Farbübergang zwischen Krume und Kruste“ durfte eine gewisse Toleranz nicht überschreiten. Eine „Streuselschnecke mit Puddingmasse“ hatte mindestens 85 Gramm auf die Waage zu bringen.

Bis 1961 gab es in der DDR DIN-Normen und TGL-Normen quasi in friedlicher Koexistenz, doch mit dem Bau der Mauer wurde ideologisch aufgerüstet und auch das Normwesen auf Marxismus geeicht. Die DIN-Normen bekamen einfach eine Null vor ihre Kennziffer gesetzt und wurden damit zu TGL-Normen. Die DDR-Außenstellen des bis dahin gesamtdeutsch aufgestellten DIN-Instituts wurden geschlossen. Ostdeutsche Ingenieure mussten sich aus den regelmäßig tagenden Normenausschüssen des DIN-Instituts zurückziehen.

Dass das DIN-Institut überhaupt solange systemübergreifend arbeiten konnte, liegt an seiner vom Staat unabhängigen Struktur. Das Institut wurde 1917 als „Normenausschuss der deutschen Industrie“ gegründet. 1920 erhielt das DIN den Vereinsstatus. Die erste DIN-Norm – DIN 1 – betrifft die Maße von Kegelstiften aus Metall, die Maschinenteile zusammenhalten. 1922 erschien DIN 476 und regelte die Papierformate.

DIN-Normen haben nur empfehlenden Charakter und werden ständig dem technischen Fortschritt angepasst. Die TGL-Normen der DDR hatten dagegen Gesetzeskraft, gingen viel stärker ins Detail und waren nur durch ein zeitraubendes Prozedere zu ändern. Zu spät bemerkten die Normierer, dass ihre Normen den Innovationstrieb eher bremsten. Schon kurze Zeit nach dem Fall der Mauer stellte das DDR-Amt für Normierung seine Arbeit ein und überließ dem DIN-Institut die Vertretung der DDR in Internationalen Normenorganisationen. Die so genannte „Normenunion“ zwischen beiden deutschen Staaten trat am 4. Juli 1990 in Kraft, drei Tage nach der Währungsunion.

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