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Berlin: Badewanne mit Waldrand

Müggelsee und Müggelspree sind Berlins originellste Wasserseite, dort rudert sogar die BVG über den Fluss Schon 1890 entdeckten hier Künstler ihr Paradies und gründeten den Friedrichshagener Dichterkreis

Julius Hart fuhr zum ersten Mal vom Alex nach Friedrichshagen am Müggelsee. Die Sonne funkelte an diesem Sonntag im Jahre 1890, die Hitze kochte im Eisenbahncoupé. Ausflüglerscharen hatten den Wagen über und über besetzt, Hart kippelte auf der Kante einer Holzbank – da gellte plötzlich ein ekstatischer Schrei: „Eine Ziege, eine Ziege!“ Alle drängelten sich „zum Fenster hin, um den Anblick auf etwas so Ungewohntes zu erhaschen“, erzählt der Schriftsteller in seinen Erinnerungen. „Wat’s doch for merkwirdige Jeschöpfe allens uff da Erde gib“, hörte er hinter sich eine philosophische Betrachtung. „Det hat man nu direkt vo da Tür.“

Julius Hart war damals in der Stadt ein geachteter Autor und Theaterkritiker. Er fuhr im Gefolge der Berliner Ausflügler hinaus ins Grüne, weil auch Literaten und Bohemiens den Müggelsee als ihr Paradies entdeckten und gerade den „Friedrichshagener Dichterkreis“ gründeten. Hier sammelten sich Aussteiger. Sie suchten nach neuen Lebensformen und flohen aus dem „steinernen Berlin“, das ihnen „zum Hals raushing“, wie der Gründer des Dichterkreises, Wilhelm Bölsche schreibt. Er selbst verfasste die ersten populärwissenschaftlichen Sachbücher und zog 1890 mit Gleichgesinnten raus nach Friedrichshagen.

Eine bunte Künstlerschar besuchte ihn oder siedelte sich drumherum an. Der Schriftsteller Gerhart Hauptmann aus Erkner, Jugendstilmaler Fidus aus Woltersdorf , Antrophosoph Rudolf Steiner oder Anarchisten wie Gustav Landauer. Sie diskutierten rot, schwarz und grün gefärbte gesellschaftliche Alternativen, gaben sich Naturschwärmereien und bacchantischen Freuden hin. Theaterkritiker Julius Hart war gerne dabei. „Denke ich Eurer, o Tage von Friedrichshagen, da wir an den Wassern des Müggelsees saßen, so steigt es wie ein Weinduft um mich auf“, erinnerte er sich später.

Ausgiebig feierten am Müggelsee auch die vielen Ausflügler aus dem proletarischen Miljöh, über deren Zukunft man sich im Dichterkreis die Köpfe heiß redete. Den „Tag der Arbeit“ am 1. Mai ließen sie im größten Biergarten am Friedrichshagener Ufer, dem „Müggelseeschlösschen“, hochleben – vor 1890 sogar inkognito, getarnt als Wandersleute, weil Bismarcks Sozialistengesetze noch sozialdemokratische Umtriebe untersagten. Und ein Stück Strand zum Schwimmen, Spielen und Schmusen fanden sie allemal am Ufer von „Berlins Badewanne mit Waldrand“, wie der nur 11 Meter tiefe Müggelsee im Volksmund heißt.

Diese riesige Badewanne entdeckten Sommerfrischler um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Damals waren die Seeufer und die Wiesen zwischen den mäandernden Armen der Müggelspree noch menschenleer. Oft lag Dunst über dem Wasser, weshalb man den Namen des Sees vom indogermanischen „mygla“ ableitete – Ort des Nebels . Und Friedrichshagen? Es war 1753 von Friedrich II. als Kolonie für eingewanderte Seidenspinner und Weber gegründet worden, aber das Handwerk kam nicht so zur Blüte, weshalb die Friedrichshagener ihren Ort ein Jahrhundert später zum Seebad entwickelten.

Als Wilhelm Bölsche seinen Dichterkreis gründete, zogen sonntags neben den letzten Kuhherden schon hunderte Berliner zum Ufer. Sie bummelten durch die damalige Friedrichstraße, die 1945 nach Bölsche benannt wurde, und standen am Kai: „Müggelsee – ein ovaler, wundervoll blauer See, hinter dem sogar eine kleine Hügelwelle aufragt, von der ganz mit Unrecht behauptet worden ist, dass sie von diluvialen Maulwürfen aufgeworfen worden sei“, schwärmt der Schriftsteller.

Zwei Jahrzehnte zuvor ließ sich schon Theodor Fontane „vom Müggelzauber einspinnen“. Es erfreute ihn, „so an der Müggel zu sitzen und, die leise Musik von Wald und Wasser um sich her, die Stunden zu verträumen“. Damit war es allerdings an manchen Wochenenden bald vorbei. Die Müggel wurde populär, die einstige „Müggelbude“ am südlichen Ende des heutigen Spreetunnels gegenüber der Friedrichshagener Brauerei entwickelte sich ab 1870 zum „Müggelseeschlösschen“: Ein Gasthaus mit 5000 Plätzen im Biergarten und Anleger. Noch in den 30er Jahren pries es jeder Reiseführer an, doch 1945 brannte es im Bombenhagel nieder und wurde nicht wieder aufgebaut.

Gut überlebt hat hingegen „der Rübezahl“ am südlichen Seeufer. Das Lokal wurde 1891 eröffnet – von einem Wirt namens Lange mit riesigem Vollbart. Wie der schlesische Berggeist muss er ausgesehen haben, weshalb die Ruderer die Parole ausgaben: „Auf zu Rübezahl!“ Dessen Lokal florierte so gut, dass man 1903 sogar eine Zahnradbahn zu den Müggelbergen bauen wollte, was nicht genehmigt wurde. 1897 eröffnete dann die Gaststätte „Neu-Helgoland“ am Kleinen Müggelsee, denn auch die Spreearme bei Rahnsdorf entwickelte sich zur Sommerfrische-Attraktion. In den 20er Jahren bauten Wassersportler Berlins „Neu-Venedig“ mit Brückchen und Kanälen – und heute gilt die Müggelspree als idyllischste Wasserstraße der Stadt. Sogar die BVG rudert hier bei Alt-Rahnsdorf mit Berlins kleinster Fähre über den Fluss.

An den Ufern impressionistische Bilder von flirrender Erwartung wie in den Werken der Berliner Maler Franz Skarbina oder Walter Leistikow. Die Düfte und Geräusche von Sommerfrische gehören dazu – Müßiggang, Wellenschlag, Kaffee und Kuchen, Bockwurst, Limonade. Oder märkische Nordseegefühle wie in „Neu-Helgoland“. Vermutlich haben deshalb so viele Menschen beim Wiederaufbau des Traditionsgasthauses mit Solidaritätsaktionen geholfen, nachdem es im Januar 2002 niedergebrannt war. Sie wollten sich einen Kindheitstraum bewahren.

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