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Die Infobox am Potsdamer Platz war einst Treffpunkt der Baustellenfans.

© dpa

Die Berliner und ihre Baustellen: Bauen und schauen

Bagger und Kräne locken die Berliner seit jeher unwiderstehlich an. Warum eigentlich?

Die erste überlieferte Begehung einer Großbaustelle durch die Berliner fand im Frühjahr 1448 unter Kurfürst Friedrich II. statt. Dessen Schlossbauplänen misstrauten die Bürger immer mehr, befürchteten eine Art Zwingburg und wurden schließlich dagegen initiativ: Die Baustelle wurde verwüstet, durch ein geöffnetes Wehr sogar überschwemmt – ein rabiates Happening, das als „Berliner Unwille“ in die Annalen einging. Geholfen hat es nichts.

Das noch heute übergroße, gleichwohl friedlichere Interesse an Baustellen hat also eine uralte Tradition. Mehr noch, fast ist man versucht, von einem Virus zu sprechen, versenken doch auch Touristen ihren Blick fleißig in hiesige Baugruben. Man kann diese Neugier im Kleinen derzeit etwa am U-Bahnhof Mendelssohn-Bartholdy-Park beobachten, auf dessen Bahnsteigen die wartenden Fahrgäste den Hals recken, um die vorbereitenden Arbeiten zu dem 13-Geschosser zu beobachten, unter dem der Hochbahnhof verschwinden wird.

An sich ein sehr bequemer Ausguck, anderswo in Berlin musste man derlei erst für teures Geld bauen. Unvergessen die rote Infobox, die von 1995 bis 2001 am Leipziger Platz stand, drinnen eine Ausstellung über das Großprojekt Potsdamer Platz, oben drauf eine Beobachtungsplattform, von der aus das Baugeschehen gut zu sehen war. Zu bestaunen gab es da täglich Neues, der Bau wuchs rasant, und wann sonst sah man schon mal Taucher im trüben Baustellentümpeln versinken.

Riesenbaustellen sind ein Berliner Phänomen

Beim neuen Hauptstadtflughafen BER musste es gleich ein Infotower sein, eröffnet im November 2007, mehr als ein halbes Jahr vor Baubeginn am Hauptterminal. Dass die Eröffnung Anfang Mai 2012 kurzfristig abgesagt werden musste, wenige Tage darauf aber trotzdem gut besuchte Publikumstage stattfanden, gehört zu den Kuriositäten dieses daran überreichen Projekts.

Die im Sommer 2011 eröffnete Humboldtbox am Schlossneubau schließt gleichfalls an die beschriebene Tradition an, auch was den Publikumszuspruch betrifft. In den ersten sechs Tagen hatten bereits 12.000 Menschen die blaue Kiste besucht, und da waren es bis zur Grundsteinlegung noch fast zwei Jahre.

Der Spaß an Riesenbaustellen, sofern sie nicht allzu sehr den Verkehr behindern, ist also ein Urberliner Phänomen. Man besucht sie gerne, führt sie Fremden vor, brüstet sich auch ein wenig damit. Da mögen sich Neugier aufs Technische, Sensationslust, Lokalpatriotismus und wirkliches Interesse am Gedeihen der Heimatstadt mischen – oder es ist einfach, wie Günter Matthes, jahrzehntelang Lokalchef des Tagesspiegels, 1966 zum Thema „Bürger und Bauten“ schrieb: „die Lust der Berliner an jeder ausgefallenen öffentlichen Darbietung an sich und ihr besonderes aktives Interesse am Aufbau ihrer Stadt“. Ein offenkundig demokratisches Interesse, mithin ein auch öffentlich gefördertes Charakteristikum des Westteils der Stadt. Im Ostteil fand sich Vergleichbares erst nach der Wende.

Bauwochen entwickelten sich

In manchen Zeiten ist dieses Interesse besonders stark ausgeprägt. In den Jahren des Wiederaufbaus etwa, als das zerbombte Berlin eine neue, moderne Gestalt anzunehmen begann. Großprojekte wie die Interbau 1957 mit ihrer Neugestaltung des Hansaviertels zogen da automatisch die Schaulust der Berliner an, und schon bald wurde die Möglichkeit, diese Neugier zu befriedigen, von amtlicher Seite sogar institutionalisiert. Bereits 1959 fanden in West-Berlin erstmals Baustellentage statt: zwei Wochenenden im Spätsommer, an denen Bürger, damals noch aus beiden Stadthälften, 14 Großbaustellen besichtigen konnten, vom U-Bahnhof Zoologischer Garten über die Deutsche Oper bis zu einer Kindertagesstätte in Spandau. 55.500 Besucher kamen, eine Zahl, die ein Jahr später fast verdoppelt wurde. Die Veranstaltung hieß nun „Berliner Bauwochen“ und fand bis 1980 alle zwei Jahre statt, mit Baustellenrundfahrten, -besichtigungen und Fachvorträgen. Jedesmal mit viel Aah und Ooh, aber hin und wieder auch Enttäuschungen. So war das Echo nicht zu überhören, als 1962 die Philharmonie auf dem Programm stand und der Baustellenführer die Höhe des Konzerthauses mit der eines Mietshauses verglich: „Wat, nich höher?“

Erstaunlich, dass die Tradition der „Bauwochen“ ausgerechnet in den achtziger Jahren einschlief, als die Internationale Bauausstellung 1987 auf dem Programm stand. Möglich, dass die damaligen Hausbesetzungen zu viel vom Interesse der Bürger an Stadtentwicklung abzogen. Aber 1990 waren die „Bauwochen“ mit Besichtigungen, Rundfahrten, Vorträgen, Talkshows und Mieterberatungen wieder da, nun erstmals auch im Ostteil der Stadt. Als „größte Baustelle Berlins“ stand damals das Rudolf-Virchow-Krankenhaus auf dem Programm – eine Spitzenposition, die nicht lange Bestand hatte.

Wieder hatte es einen Umbruch, einen Neubeginn gegeben, und Baustellen lockten ohne Ende. Die „Schaustelle Berlin“ wurde 1995 ausgerufen, ein geschickter Schachzug der Stadtvermarkter. Eine mit viel Trara beworbene Veranstaltungsreihe, anfangs mehrere Wochen lang, mit jeweils rund 100.000, im letzten Jahr 2005 sogar 140.000 Besuchern. Dann gingen die Großbaustellen langsam aus, bis 2008 mit dem Baubeginn am BER-Gebäude die Mutter aller Baustellen eröffnet wurde. Doch wenngleich diese längst allen Berlinern ein Ärgernis ist: Ein Verlauf wie 1448 ist nicht zu erwarten.

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