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Großstadtdichter. Der "Reformdichter" Mathias Weber als Postkartenmotiv um die Jahrhundertwende. Seine Gedichte verkaufte als Flugblätter in kleiner Auflage auf der Straße, nur wenige Verse sind überliefert.

© Postkarte/Repro: Tsp

Berlin-Bilder aus der Kaiserzeit: Der vergessene Hippie-Dichter

Eine Postkarte ist eines der wenigen verbliebenen Zeugnisse des Berliner Straßenpoeten Mathias Weber. In der Kaiserzeit wurde er als "Reformdichter" gefeiert und stand Malern als Heiland Modell. Erinnerung an einen Großstadt-Heiligen.

Der Lumpensammler, die Salzstangenverkäuferin, der Stiefelputzer, der Bauchladenhändler mit den Wachsstreichhölzern: Die Gestalten des Berliner Straßenlebens waren zur Kaiserzeit Sehenswürdigkeiten für Besucher der Reichshauptstadt. Zigtausendfach verschickten Touristen die Motive der Postkarten-Serie „Berliner Typen“, heute werden die Grußkarten im Internet als Sammlerstücke gehandelt.

Unter den Berliner Typen findet sich auch eine Ansichtskarte mit der Aufschrift „Der große Reformdichter Mathias Weber“. Der kleine Mann im Gehrock, mit angegrautem Vollbart und langem ungekämmtem Haar, das über die Schultern hängt, ist ein früher Großstadt-Hippie, ein typisches Gewächs der Lebensreform-Bewegung der Jahrhundertwende, die von den Wandervögeln bis zu Nudistenzirkeln vielfältige Blüten in der zur Weltstadt heranreifenden Industriemetropole treibt. „Ist er in Stimmung, geht er auf die Rousseau-Insel im Tiergarten und dichtet“, ist in dem 1987 von Udo Christoffel herausgegebenen Sammelband „Berlin in Bildpostkarten“ zu lesen. Doch der Nachruhm des Dichters verhallt schnell. Die Postkarte ist eines der wenigen Zeugnisse seiner Person. Mathias Weber gehört zu der unorganisierten Berufsgruppe der Berliner Originale. Seine Dichtkunst verweigert sich dem „Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit“, wie Walter Benjamin das später nennen wird, Weber vertreibt seine eigenwilligen Werke in Kneipen und Cafés oder, wie hier, auf der Straße, in kleiner Auflage aus Eigenproduktion – „Nachdruck verboten“.

Dichterkollege Christian Morgenstern hat einige Verse des Rhapsoden gerettet

Das längst in alle Winde zerstreute Flugblatt-Werk des „großen Reformdichters“ ist wohl am ehesten vergleichbar mit der Slam Poetry, die für die Open-Mic-Bühne gereimte Großstadtlyrik. In einem Zeitungsbeitrag unter der Überschrift „Komische Käuze“ notiert der Zeitgenosse Christian Morgenstern 1895, als „Rhapsode“ müsse sich Mathias Weber „in Cafés und Varietés sein Publikum“ suchen, „was ein grelles Licht auf die literarische Indifferenz der oberen Zehntausend wirft“. Was dort von Stegreif-Poeten zum Besten gegeben wird, überdauert allenfalls im Weitersagen, manches wird zum geflügelten Wort, geht in die Alltagssprache über oder mündet als Liedzeile in einem Gassenhauer, ohne dass der ursprüngliche Urheber je bekannt wird.  

Morgenstern hat zumindest ein paar Zeilen des flüchtigen Werks über die Zeit gerettet, wie die zwei Verse aus dem Lied „an sein schwarzäugig Liebchen“ („ein Tässchen Mokka“) – „Ich sitze nun im Café Schiller/und wälze den Gedankentriller“. Und in der dramatischen Dichtung „Die Blechschmiede“ des Kollegen Arno Holz erhält "Mathias Weber, Reformdichter" sogar einen eigenen Kurzauftritt. „An einer langen Leine von oben her, purpurne Toga, Goldkranz, Leier“, schwebt er herab, um die erste Strophe seines Gedichts „Die Welle“ vorzutragen:

„Welle, Welle, Welle, du Kobold auf der Wasserflut. Wirst du meine Heimat streichen o, so biet ihr meinen Gruß, weil ich doch in weiter Ferne von der Heimat weilen muss.“

Und ein Chor antwortet darauf: „Wir haben nur einen Dichter auf unserem Erdenrund: er hat uns die Welle geschrieben, sie geht von Mund zu Mund!“

„Die Welle“ dürfe „mit Fug den bedeutendsten Erzeugnissen moderner Lyrik zur Seite gestellt werden“, urteilt Christian Morgenstern, und nennt Weber eines jener ursprünglichen Talente, „die singen, wie der Vogel singt“, nämlich: „Der in ihrem Kopfe wohnt“.

Ein seltsamer Kauz wie Mathias Weber kommt den naturalistischen Rebellen gerade recht, um den Bettelpoeten in spielerischer Ironie als Dichterfürsten zu feiern – und damit insgeheim der herrschenden Obrigkeit zu spotten. Und wenn die Begeisterung mit den „Musensöhnen der Reichshauptstadt“ durchgeht, kann es vorkommen, dass „das vaterländische Dichtergenie“, von seiner Slam-Poetry-Bühne, dem Kneipentisch, auf Schultern hinaus durch die nächtlichen Straßen Berlins getragen wird. Im Buch „Berlin in Bildpostkarten“ heißt es schließlich: „Seine Gedichte sind vergessen, verewigt ist sein Kopf – in Christusdarstellungen zahlreicher Künstler“, denen der Straßenpoet Modell gestanden habe. Ein Heiliger vom Berliner Großstadtpflaster.

Lesen Sie auch die Beiträge aus unserer Serie "Fraktur!" mit Berlin-Bildern aus der Kaiserzeit.

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